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Wer Bist Du, Gott

Titel: Wer Bist Du, Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselm Gruen
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würden, wenn ich glauben würde, den Durst nach Gott übergehen zu können. Mein Beten führt mich zu Gott, dem allein die Ehre gebührt und auf den mein tiefstes Verlangen ausgerichtet ist. Es kanalisiert meine Sehnsucht nach Gott, von der es in einem Psalm heißt: »Nur zu Gott hin wird stille mein Verlangen« (Ps 62,2).
     
     
    ANSELM GRÜN: Der Ort, an dem ich Gott vor allem erfahre, ist für mich das Gebet. Natürlich erfahre ich Gott auch in der Schöpfung und in der Begegnung mit anderen Menschen. Ich erfahre ihn im Gottesdienst und im Schreiben, wenn ich mir über meine Erfahrungen mit Gott klar werde und sie zu formulieren suche. Aber ein zentraler Ort ist nach wie vor für mich das Gebet. Als Mönche beten wir fünfmal am Tag gemeinsam die Psalmen. In den Psalmen begegnet mir gerade oft der dunkle und unbegreifliche
Gott. Und ich begegne in den Psalmen mir und meiner eigenen Wahrheit. Ich bin nicht immer aufmerksam bei jedem Vers. Aber immer wieder spricht mich ein Vers an und öffnet dann mein Herz für Gott.
     
     
    WUNIBALD MÜLLER: Darin kommt etwas ganz Wesentliches des Betens zum Ausdruck: Es ist eine Herzensangelegenheit. Es öffnet mein Herz und es entspringt meinem Herzen. Das lateinische Wort für »glauben« heißt credere . Darin stecken die lateinischen Worte cor und dare , was man mit »Herz geben« übersetzen kann. Glauben wird so gesehen als mein Herz geben verstanden. Das aber geschieht im Beten.

Die Psalmen wie einen Kuss erleben
    ANSELM GRÜN: Für mich habe ich zwei Weisen des Psalmenbetens als Wege der Gottesbegegnung entdeckt. Der eine Weg versteht die Psalmen als Gedichte, die meine Gefühle und Erfahrungen vor Gott zum Ausdruck bringen. Dann erlebe ich das Psalmengebet als ehrliche Begegnung mit Gott. Ich halte meine Wahrheit Gott hin. Aber in den Psalmen fühle ich mich seit jeher verbunden mit allen Menschen. Denn nicht immer drücken die Bilder der Psalmen meine persönlichen Erfahrungen aus. Oft erinnern sie mich an bestimmte Menschen, von deren Leid ich gehört habe. Bei dieser Weise, die Psalmen zu beten, erlebe ich mich in
Gemeinschaft mit allen Menschen. Ich stelle mich meiner Wahrheit und halte sie Gott hin.
    Der zweite Weg ist der Weg, den uns der heilige Augustinus empfiehlt:Wir sollen die Psalmen gemeinsam mit Jesus Christus beten.Vor allem in der Karwoche hilft mir dieser Weg. Ich stelle mir vor, dass Jesus selbst in den Worten der Psalmen seine Erfahrungen mit den Menschen ausdrückt, gerade auch mit denen, die ihn abgelehnt, verurteilt und getötet haben.
    Wenn ich die Psalmen so bete, dann geht mir das Geheimnis Jesu neu auf, das Geheimnis des Menschen Jesus, der ähnliche Gefühle, Leidenschaften, Konflikte, Verurteilungen und Ablehnungen durch andere erfahren und durchlitten hat wie ich. Ich fühle mich ihm innerlich verbunden. Aber zugleich stelle ich mir vor, dass Jesus jetzt diese Psalmen in Gott betet, in den er nach seiner Auferstehung ganz und gar eingegangen ist. So spüre ich im Psalmenbeten die Verbindung mit dem Menschen Jesus, aber auch mit dem Gottmenschen, mit dem Sohn Gottes, der in Gott ist und mich durch das Gebet mit hineinnimmt in die Gemeinschaft des dreifaltigen Gottes.
    Du kommst ja auch fast täglich in unsere Mittagshore und singst mit uns die Psalmen. Und du hast auch schon über die therapeutische Wirkung der Psalmen geschrieben. Was ist dir an den Psalmen wichtig?
     
     
    WUNIBALD MÜLLER: Das ist mir während eines längeren Aufenthalts in Taizé noch einmal bewusster geworden. Die Gesänge, die ich dort dreimal am Tag, dabei einzelne Gesänge immer wiederholend, gesungen habe, haben eine
tiefe Schicht in mir angerührt. Sie haben tief in mir einen Resonanzboden vorgefunden, der sie aufgenommen, ja regelrecht aufgesaugt hat. Bis dahin, dass irgendwann die Gesänge in mir sangen oder ich am Morgen mit einem Gesang in meinem Herzen aufgewacht bin. Ich führe das darauf zurück, dass diese Gesänge eine ganz tiefe Sehnsucht in mir ansprechen und wachrufen, eine Sehnsucht, die letztlich unstillbar ist: die Sehnsucht nach Gott.
    Genauso ergeht es mir bei den Psalmen. Der Alttestamentler Erich Zenger hat einmal die Psalmen als die Meditationen der Bibel bezeichnet. Sie sind für mich Betrachtungen, die es mir ermöglichen, mich in Gott hineinzuversenken, und das so, wie ich bin, so, wie ich mich gerade fühle: überglücklich, traurig, hoffnungsvoll, verzweifelt, dankbar und so weiter. Im Beten und im Singen der Psalmen verleihe ich meiner

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