Wer Bist Du, Gott
Seele Ausdruck, singt mein Innerstes. Meistens lasse ich dann auch ungehemmt mein Innerstes zu.Wenn ich mein Innerstes zulasse, lasse ich auch Gott in mir zu.
ANSELM GRÜN: Mich fasziniert, was vom heiligen Franziskus erzählt wird: Wenn er beim Psalmenbeten den Namen des Herrn aussprach - Herr war für ihn immer Jesus Christus -, dann schien er vor Wonne und Zärtlichkeit die Lippen zu lecken. Die Worte waren für ihn wie ein Kuss, den er im Mund spürte. Manchmal erlebe ich bestimmte Worte der Psalmen auch wie einen Kuss. Dann sind die Psalmen nicht mehr so spröde. Mitten in den alltäglichen Auseinandersetzungen, die die Psalmen beschreiben, steht dann auf einmal ein Wort von Gottes Liebe, von Gottes Huld, von Gottes Barmherzigkeit, die wie ein Kuss wirken.
Auf diese Weise wird das Psalmenbeten zum Gebet meiner Sehnsucht nach einer Liebe, die mich berührt und verwandelt.
Das persönliche Gebet
WUNIBALD MÜLLER: Beten und Meditieren tragen dazu bei, die Gegenwart und Zeit aufzubrechen. Mich aufzubrechen für Gott, sodass ich mich »erweitere« um den göttlichen Bereich. Ich begebe mich in die bergende, mich umhüllende Atmosphäre Gottes. Das Heilige umgibt mich wie eine zweite Haut. Oder ich fühle mich wie in einer Höhle. Ich stehe da, lasse mich von der Sonne bescheinen, bin mitten unter den Menschen und zugleich in Berührung mit Gottes Gegenwart. Hier. In mir und um mich herum.
Je mehr ich mich Gott dabei überlasse, desto mehr überlasse ich mich seiner verwandelnden Kraft, die dann zunehmend die Führung über mich übernimmt und mich formt nach ihrem Maß. Ihr Maß ist die Liebe. Die Liebe, die meine Engherzigkeit in Weitherzigkeit, meinen Hass in Zuneigung, meine Rachegelüste in Vergebung verwandelt. Am Abend, vor dem Zubettgehen, hilft mir das Beten, mich mit Gott zu verbinden, in die Welt des Ewigen einzutauchen. Ich koste dann die Erfahrung der Verbundenheit mit dem göttlichen Bereich einen Moment lang aus, überlasse mich und alles, was mich beschwert oder beschäftigt, Gott.
ANSELM GRÜN: Vor allem ist das persönliche Gebet für mich ein Zugang zu Gott. Im persönlichen Gebet setze ich mich einfach vor Gott und halte - ohne dass ich dazu immer Worte formulieren muss - meine Wahrheit Gott hin. Ich stelle mir vor, dass ich vor Gott sitze, dass er mein Herz durchschaut. Ich kann vor Gott nicht sein, ohne meiner eigenen Wahrheit zu begegnen. Aber die Gegenwart Gottes ermöglicht es mir auch, die eigene Wahrheit anzuschauen. Ich fühle mich mit allem, was ich bin, von Gott angenommen.
Das Gebet führt aber nicht immer in die Erfahrung Gottes. Manchmal erlebe ich Gott auch als abwesend. Meistens bin ich dann selbst abwesend. Wenn ich nicht bei mir bin, kann ich auch die Nähe Gottes nicht erfahren. Aber wenn ich ganz bei mir bin und Gott die Sehnsucht meines Herzens hinhalte, so erahne ich ihn. Und dann erfahre ich Gott als den, der mich mit einem tiefen Frieden erfüllt, der mich herausführt aus der Oberflächlichkeit des Alltags. Dann erlebe ich das Leben als lebenswert. Es tun sich andere Dimensionen auf: die Dimension des Heiligen, der reinen Gegenwart, der Liebe, der Transzendenz, des Geheimnisses. Ich werde einfach still und lausche in das Geheimnis hinein.
WUNIBALD MÜLLER: Das ist eine Form des Betens, die ich am Ende des Tages praktiziere. Ich begebe mich in mein Arbeitszimmer, in dem ich mir eine Ecke eingerichtet habe mit einer Ikone, davor steht eine Kerze. Ich zünde die Kerze an, setze mich auf meinen Meditationshocker, schließe die Augen und verweile für einige Minuten in Stille. Oft denke ich an die Menschen, denen ich tagsüber begegnet bin, und
an die Menschen, die mir nahestanden und inzwischen gestorben sind. Innerlich verbinde ich mich ganz bewusst mit der größeren Macht, mit Gott, mache mir die Verbundenheit mit ihm bewusst. Am Ende verbeuge ich mich vor dem Größeren, Gott, dem ich mich ganz bewusst und gerne unterordne und vor allem überlasse. Dem ich aber auch alles überlasse. Ich liebe diese Augenblicke. Sie sind für mich kein Muss, sondern eine Labsal für meine Seele.
Im persönlichen Beten wird der unermessliche Gott zu meinem Gott, mit dem ich in einen persönlichen Kontakt trete. Er bleibt nicht länger etwas Anonymes, Kaltes, Distanziertes, sondern wird zu etwas Persönlichem, Personalem, ja zu einem und schließlich zu meinem Du. »Wenn an Gott glauben bedeutet, von ihm in der dritten Person reden zu können, glaube ich nicht
Weitere Kostenlose Bücher