Wer Blut vergießt
Ich will nicht.«
Shaun trat zurück und betrachtete ihn, als wäre er ein Insekt unter dem Mikroskop eines Forschers. »Ich hab gesagt, ich will dich da reingehen sehen. Wenn du’s nicht tust, erzähl ich allen in der Schule, was dein Dad mit dir macht.«
»Nein! Du hast es versprochen.« Joe schluchzte jetzt. »Das kannst du nicht …«
»Scheiße, Mann, lass ihn in Ruhe!«, wollte Andy schreien, aber es kam nur ein Krächzen heraus. Die Wirkung des Haschischs schien jetzt stärker zu werden.
»Willst du mich zwingen?« Mit seiner freien Hand packte Shaun Andys T-Shirt und warf ihn mit voller Wucht gegen den Zaun. Andy knallte hart mit dem Hinterkopf gegen die Latten, und seine Knie knickten ein.
Er musste kurz weggetreten sein, denn das Nächste, was er sah, war, wie Joe durch Nadines offene Terrassentür trat, mit steifen Schritten, wie ein Verurteilter auf dem Weg zur Hinrichtung. Die Musik hatte aufgehört.
Dann ein Schrei, und das Splittern von Glas.
Es war dunkel, als Melody in Putney ankam. Sie parkte am Straßenrand und blieb einen Moment sitzen, den Blick auf Dougs Haustür gerichtet, durch deren Glasscheiben grün-goldenes Licht fiel. Die Farben erinnerten sie an das Bild, das sie sich von Lothlórien gemacht hatte, dem Zauberwald in Tolkiens Romanen. Das würde sie Doug aber bestimmt nicht sagen. Jedenfalls nicht im Moment.
Aber was sollte sie ihm sagen?
Als sie und Gemma mit der U-Bahn von Whitechapel nach Brixton zurückgefahren waren, hatte sie ihr von dem Gespräch mit Nick im Seven Stars berichtet. »Was Andy mir über den Typ erzählt hat, den er im Pub geschlagen hat, das war nicht nur nicht die ganze Wahrheit«, hatte sie seufzend geendet. »Es war eine glatte Lüge. Er hat ihn gekannt.«
»Das heißt noch nicht, dass es da eine Verbindung zu diesen Morden gibt«, erwiderte Gemma. »Wir haben Andy aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschlossen, und zwar zum Teil aufgrund deiner eigenen Aussage. Ich habe hier eine Kopie von Rashids Bericht« – sie tippte auf ihre Tasche –, »und er ist sich absolut sicher, was den Zeitpunkt von Shaun Francis’ Tod betrifft. Nicht nur, dass du zu dieser Zeit mit Andy im 12 Bar warst, es gab auch noch Dutzende andere Zeugen.«
»Ja, aber – er ist irgendwie in diese ganze Geschichte verwickelt, und ich – ich glaube, ich habe mich ganz fürchterlich blamiert.« Sie schüttelte den Kopf, als Gemma zu einer Erwiderung ansetzte. »Es ist nicht nur verletzter Stolz. Ich mache mir Sorgen um ihn. Ich glaube, da gibt es irgendein ganz schlimmes Geheimnis, und ich kann nicht mit ihm darüber reden.«
»Nein, das kannst du nicht«, sagte Gemma bestimmt. »Es war schon grenzwertig, dass du Nick vernommen hast. Ich will, dass du mit niemandem sprichst, der irgendeine persönliche Beziehung zu Andy Monahan hat, bis wir diese Sache geklärt haben.«
Es war eine relativ milde Standpauke gewesen, aber Melody war klar, dass sie sich in Acht nehmen musste. Und sie brauchte Hilfe. Jetzt atmete sie noch einmal tief durch und stieg aus.
Durch einen Spalt im Vorhang des Wohnzimmerfensters konnte sie den Fernseher flimmern sehen, doch als sie klingelte, machte niemand auf. Nachdem sie ein zweites Mal geklingelt hatte, klopfte sie an die Scheibe, dann bückte sie sich, hob die Klappe des Briefschlitzes an und rief hinein: »Ich weiß, dass du da bist, Doug. Mach endlich die verdammte Tür auf!«
Nach einer Weile hörte sie das rhythmische Stampfen von Dougs Gipsfuß auf dem Boden, und dann wurde die Tür aufgerissen.
Sie sah in sein finsteres Gesicht. »Du hörst dich nicht nur an wie Frankensteins Monster, deine Miene würde auch gut dazu passen. Willst du mich nicht reinlassen?«
»Ich habe zu tun.«
Melody verdrehte die Augen. »Ja, das kann ich sehen. Komm schon, Doug, spiel nicht die beleidigte Leberwurst.«
»Ich und beleidigt? Wie kommst du bloß darauf? Könnte es vielleicht damit zu tun haben, dass ich hier mit einem gebrochenen Knöchel flachliege und du seit Sonntag nicht einmal angerufen hast?«
»Bitte. Lässt du mich jetzt rein? Ich frier mir hier noch einen ab.«
Er schlurfte so weit zurück, dass sie an ihm vorbeikam, und ging dann voran ins Wohnzimmer, doch seine Miene hellte sich noch immer nicht auf. Er hatte es sich offensichtlich im Wohnzimmersessel bequem gemacht und seinen Fuß auf den Polsterhocker gelegt. Der Fernseher lief, allerdings ohne Ton, und sein Laptop stand aufgeklappt auf dem Couchtisch.
Als Doug das Haus gekauft hatte,
Weitere Kostenlose Bücher