Wer Blut vergießt
rauchen. Von dem Geruch in Kombination mit der Bewegung war ihr so übel geworden, dass ihr Vater anhalten und sie aussteigen lassen musste, damit sie sich auf dem Randstreifen übergeben konnte. Er hatte danach nie wieder eine Zigarre geraucht – jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart.
Sie hoffte inständig, dass sie nun nicht die gleiche Bitte an Kincaid richten müsste.
Die Sommerferien … irgendetwas war da doch. Da fiel ihr ein, dass es die Geschichte war, die sie Gemma zu Beginn dieser Ermittlung erzählt hatte, über den Ausflug mit ihrer Schulklasse zum Crystal Palace Park. Es war im Herbst gewesen, sehr früh im Schuljahr, da war sie sich sicher, weil es sich bei der Hitze immer noch wie Sommer angefühlt hatte. Sie und Andy waren ungefähr gleich alt – war es möglich, dass sie an diesem Tag aneinander vorbeigegangen waren, ohne es zu ahnen?
Romantische Spinnereien, schalt sie sich. Und doch war der Gedanke irgendwie tröstlich, und sie fand den letzten Teil der Fahrt schon nicht mehr ganz so schlimm.
Als sie sich dem höchsten Punkt von Gipsy Hill näherten, hüllte sie bereits dichter Nebel ein. Während sie um das Crystal-Palace-Dreieck herumfuhren, tauchten grellgelbe Scheinwerfer und die roten und grünen Lichtkleckse der Ampeln scheinbar aus dem Nichts vor ihnen auf.
»Macht echt keinen Spaß, in dieser Suppe zu fahren«, schimpfte Kincaid. »Sind wir bald da?«
Gemma konsultierte den Stadtplan und die Wegbeschreibung. »Gleich hinter dem White Stag geht es rechts ab.«
Die Abzweigung tauchte so plötzlich aus dem Nebel auf, dass Kincaid sie beinahe verpasst hätte. Er bremste ab und schlug das Lenkrad ein, um im Schritttempo um die Ecke zu biegen. Die Straße verlief hier in einer Schleife, und sie konnten schemenhaft die von Bäumen umstandenen Wohnblocks an dem steilen Hang erkennen.
»Nicht übel für Sozialwohnungen«, sagte Gemma, als sie sich umsah. »Vielleicht sollten wir auch mal versuchen, von Sozialhilfe zu leben.«
Nachdem Kincaid einen Parkplatz gefunden hatte und alle ausgestiegen waren, zog Melody den Kragen ihres Mantels fester zusammen. Der Nebel wirkte zwar zart wie Zuckerwatte, doch die feuchte Luft brannte in der Lunge, und die Kälte kroch ihr sofort in die Glieder.
Gemma las die Hausnummern und zeigte auf eines der Gebäude. »Da oben. Erster Stock.«
Sie ging voran, als sie vorsichtig eine rutschige Freitreppe hinaufstiegen und einem betonierten Gang folgten, bis sie zu einer ramponierten Tür ohne Namen an der Klingel gelangten. Als Gemma auf den Knopf drückte, war nichts zu hören, also klopfte sie laut. Durch die dünne Tür drang das Geplärr eines Fernsehers. Die Vorhänge im Fenster waren zerrissen und hingen oben durch.
»Nicht sehr ansprechend, obwohl die Aussicht bei Tag sicher nicht schlecht ist«, murmelte Kincaid, als Gemma erneut klopfte.
Der Fernseher verstummte, und eine männliche Stimme sagte argwöhnisch: »Wer ist da?«
» DI James, Metropolitan Police. Wir möchten kurz mit Ihnen sprechen.«
Keine Antwort. Gemma hatte gerade die Hand gehoben, um noch einmal zu klopfen, als die Tür mit vorgelegter Kette geöffnet wurde und ein Mann sie durch den Spalt beäugte.
»Kann ich ’n Ausweis sehen?«, sagte er.
Gemma tat ihm den Gefallen und hielt ihren Dienstausweis hoch.
Der Mann deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf Melody und Kincaid.
Melody zeigte ihren Ausweis. » DS Talbot.«
Kincaid, der hinter ihnen stand, zückte seinen nur kurz und sagte: »Kincaid«; den Dienstgrad ließ er bewusst weg.
Die Kette blieb vorgelegt. »Was wollen Sie?«
»Können wir reinkommen, Mr Peterson?«, fragte Gemma. »Es ist Ihnen doch sicher auch lieber, wenn wir nicht vor Ihren Nachbarn über Ihre Angelegenheiten sprechen.«
»Was interessiert es mich, was dieses Pack denkt?«, erwiderte er abschätzig, doch er hakte die Kette aus und trat zurück, um sie in die Wohnung zu lassen. Er hatte nicht bestritten, dass er Joe Peterson war.
Wenn er in Andys Alter war, dann hatte er sich nicht besonders gut gehalten, dachte Melody. Er war dünn, mit kurzen braunen Haaren und ungepflegten Stoppeln im Gesicht, die den Namen Bart nicht verdienten. Und unter dem rechten Auge zeichnete sich ein Bluterguss ab, dessen Farbe schon ins Gelbliche überging.
Die Wohnung sah ebenso ungepflegt aus wie ihr Besitzer. Es roch nach Feuchtigkeit und kaltem Zigarettenrauch. Im Wohnzimmer standen halb volle Umzugskartons herum, die Tische waren mit leeren Bierdosen
Weitere Kostenlose Bücher