Wer Blut vergießt
ihren großen blauen Augen aufblitzte. Heute hatte er das deutliche Gefühl, ihr nicht das Wasser reichen zu können.
»Tut mir leid, Poppy. Das nächste Take wird bestimmt besser.«
Diesmal hätte der Blick, den sie ihm zuwarf, von jemandem kommen können, der doppelt so alt war wie sie. »Ist alles in Ordnung, Andy? Sag’s ehrlich.«
»Klar.« Er rang sich ein Grinsen ab. »Alles easy.«
»Okay. Aber wehe, du vermasselst das hier. Dann schneid ich dir die Leber raus«, fügte sie mit honigsüßer Stimme hinzu, während sie zu ihrer Jacke ging und die Wasserflasche herauszog, die in einer der Taschen steckte.
»Mann, du hörst dich echt an wie eine Pfarrerstochter.«
Poppy richtete sich auf, in der Hand einen zusammengeknüllten Zettel. »Das bin ich vielleicht, aber offenbar bin ich keine sehr gute Botin. Das habe ich heute Morgen gefunden, als ich hier ankam; es steckte unter der Tür. Ich wollt’s dir schon die ganze Zeit geben – da steht nämlich dein Name drauf.«
»Was? Zeig her.« Stirnrunzelnd nahm er ihr den Zettel aus der Hand. Es war ein Blatt billiges Notizpapier, zweimal gefaltet, und auf eine Seite war mit schwarzem Filzstift sein Name geschrieben. »Was zum …« Er bremste sich rechtzeitig, dabei fluchte Poppy selbst wie ein Bierkutscher. Das schien ihre Art zu sein, ein bisschen zu rebellieren, wenn man von den Kleidern und der Frisur absah. Er entfaltete den Zettel und versuchte das Gekritzel zu entziffern. Das Papier war offenbar nass geworden, und der Filzstift war verlaufen.
» MÜSSEN RED …« stand da, und dann etwas, das er nicht lesen konnte. Dann ein weiteres unleserliches Wort, gefolgt von » WEISST JA , WO «. Und dann – er drehte das Blatt hin und her, um Gewissheit zu haben. War dieses Gekrakel ganz unten am Blattrand ein N?
»Was ist denn?«, fragte Poppy. »Du siehst aus, als wäre jemand über dein Grab gelaufen. Lass mal sehen.«
»Nein.«
»Na los, zeig schon her.« Sie griff nach dem Zettel, als ob er einer ihrer Brüder wäre und sie sich gerade um einen Ball stritten.
»Nein, Poppy, wirklich …«
Aber sie schnappte wieder danach, und es gelang ihr, einen Blick darauf zu werfen, bevor er das Blatt wegzog und es dabei halb zerriss.
»Na, was ist das denn? Tauschst du etwa Geheimbotschaften aus wie die Fünf Freunde, hm?«
»Nein. Aber du liest wahrscheinlich immer noch Enid Blyton«, sagte er, bemüht, die Sache herunterzuspielen, während er den zerrissenen Zettel in seine Jeanstasche stopfte. »Lass die Finger davon, Poppy.«
Der Pulsschlag pochte in seinen Ohren. War es – konnte es wirklich von Nadine sein? Aber woher hatte sie gewusst, wo sie ihn finden konnte? Dann fiel ihm ein, dass er sie im White Stag und im 12 Bar gesehen hatte – oder geglaubt hatte, sie zu sehen. Es war bekannt, dass sie Aufnahmen machten – nicht ausgeschlossen, dass irgendjemand ihr erzählt hatte, sie könne ihn hier antreffen.
Dann dachte er an Melody. Sie hatte ihm das Versprechen abgenommen, auf sich aufzupassen. Nun, er würde vorsichtig sein. Aber er glaubte auch nicht eine Sekunde lang, was sie ihm da erzählt hatte, und wenn der Zettel von Nadine war, konnte er unmöglich ablehnen.
»Poppy, ich muss mal kurz weg. Sag Caleb, es wird nicht lange dauern.«
»Aber …«
»Bitte. Ich mach’s auch wieder gut. Sag ihm, es ist ein Notfall in der Familie.«
Er ignorierte Poppys missbilligenden Blick, als er seine Jacke anzog und sich zur Tür umdrehte.
Dann hielt er inne. Er ließ nie seine Gitarre irgendwo stehen. Nirgends. Niemals. Also legte er die Strat in den Kasten und schlang sich den Gurt über die Schulter.
»Du bist verrückt«, sagte Poppy.
»Ich weiß.« Er strich ihr über die Wange. »Danke.«
Dann machte er sich auf den Weg zu dem einen Ort, der jetzt noch infrage kam.
Nadine schlich sich aus der Kirche, bevor es ganz hell war. Sie hoffte, dass die erste Person, die herkam, um den Morgengottesdienst vorzubereiten, keinen allzu großen Schreck bekommen würde, wenn sie feststellte, dass die Tür nicht verschlossen war. Um die Sicherheit der Kirche machte sie sich keine Gedanken – so früh an einem Donnerstagmorgen waren gewiss noch keine Vandalen unterwegs.
Mit gesenktem Kopf ging sie hinaus auf die Oxford Street und flüchtete sich gleich in den McDonald’s zwischen der Tottenham Court Road und Hanway Place. Sie bestellte Kaffee und ein Brötchen, nicht etwa, weil sie Appetit darauf hatte, sondern weil sie wusste, dass sie ihrem Körper Energie
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