Wer Blut vergießt
gegangen am Freitagabend, und sie hat Caleb angerufen und ihn gebeten, in ihre Wohnung in Knightsbridge zu kommen. Er ist dort einige Zeit vor elf Uhr eingetroffen und bis in die frühen Morgenstunden geblieben.«
»Dann kommt er für Freitag definitiv nicht infrage. Und was ist mit Sonntag?«
»Ich habe seinen Computer von der Kriminaltechnik abholen lassen – wovon er alles andere als begeistert war –, aber ich denke, wir werden feststellen, dass er tatsächlich zu der angegebenen Zeit online war. Das Video wurde um neun hochgeladen, also ist es wohl nicht ausgeschlossen, dass er es ins Netz gestellt hat und anschließend nach Kennington gefahren ist, wo er es irgendwie geschafft hat, Shaun Francis zu betäuben und zu ermorden, aber ich halte das für höchst unwahrscheinlich.
Ach ja, und ich habe auch mit Poppys Vater Tom gesprochen, und er bestätigt, was Hart uns gesagt hat. Er hat Hart tatsächlich geholfen, einen Entzug zu machen, und die ganze Familie hat ihn bei seinen Bemühungen, trocken zu bleiben, sehr unterstützt. Hart hatte also nichts zu verbergen.«
»Und« – Melody merkte, dass ihr die Frage schwerfiel – »Nadine?«
Gemma schob ihren Stuhl zurück und streckte sich. »Du sprichst doch ein bisschen Französisch, oder? Ich hätte dir das überlassen sollen. Ich habe gleich heute früh den Besitzer des Ladens an die Strippe bekommen, einen sehr reizbaren Franzosen namens Guy. Er meinte – wenn ich ihn richtig verstanden habe –, wir seien ein Haufen englische Idioten, die mit Tomaten auf den Augen durch die Gegend laufen.
Er hat Nadine in Paris getroffen, wo sie auf der Straße lebte; das war ungefähr ein Jahr, nachdem sie unserer Vermutung nach England verlassen hatte. Sie sprach nie über das, was ihr passiert war, aber er hat etwas in ihr gesehen … Er sagte …« Gemma hielt inne, als ob sie sich an den genauen Wortlaut des Gesprächs zu erinnern versuchte. »Er sagte, dass sie selbst in ihrer Verzweiflung nie ihre Herzensgüte verloren habe. Und dann meinte er, wenn wir sie nicht fänden und uns vergewisserten, dass es ihr gut gehe, würde er höchstpersönlich nach London kommen und uns die Köpfe abreißen. Und dann folgte noch etwas auf Französisch, das ich nicht verstanden habe; aber ich glaube, es war nicht sehr schmeichelhaft.«
Melody dachte so angestrengt nach, dass sie das Lächeln vergaß. »Das hat Andy auch gesagt. Dass Nadine gütig sei. Der gütigste Mensch, den er je gekannt habe. Klingt das nach einer Frau, die fähig ist, aus Rache zwei Menschen zu betäuben und zu erdrosseln?«
»Menschen ändern sich.«
»Wenn es sie nicht verändert hat, dass sie ihren Mann verloren hat, dass sie dann eines Verbrechens beschuldigt wurde, das sie nicht begangen hatte, worauf sie ihren Job und ihr Zuhause verlor und in Paris auf der Straße leben musste – warum sollte sie sich jetzt plötzlich ändern? Und wo steckt sie, verdammt noch mal?«
Gemmas Telefon klingelte. »Es ist Maura«, sagte sie mit einem Blick auf die Anzeige. »Ich hatte sie gebeten, Joe Petersons Freundin ausfindig zu machen.«
Sie hob ab. Melody lauschte dem einseitigen Gespräch und sah, wie Gemmas Miene immer unglücklicher wurde. »Sind Sie sicher?«, fragte Gemma. Sie hörte noch einen Moment zu und sagte dann: »In Ordnung. Vielen Dank, Maura. Wir kümmern uns drum.«
»Was gibt’s?«, fragte Melody, sobald Gemma aufgelegt hatte, und wieder krampfte sich ihr Magen zusammen.
»Joe Peterson. Maura hat mit seiner Freundin gesprochen – seiner Exfreundin vielmehr. Sie sagt, Joes Vater habe vor ein paar Monaten endgültig mit ihm gebrochen, und von da an sei es mit Joe nur noch bergab gegangen, trotz der Medikamente, die er nimmt. Wutausbrüche, Streitereien. Am Freitag sind sie ihrer Aussage nach besonders heftig aneinandergeraten, und er hat sie geschlagen. Sie sagte ihm, dass es aus sei, verließ die Wohnung und ist seitdem nicht mehr dort gewesen. Sie hat Angst, ihre Sachen abzuholen.«
»Am Freitagabend?«
»Nein. Das ist es ja eben. Am Freitagnachmittag.«
Melody und Gemma sahen einander über den Schreibtisch hinweg an. »Er hat gelogen«, sagte Melody. »Andy sagt, Joe sei schon als Kind ein notorischer Lügner gewesen, und wir wissen, dass er gelogen hat, als es um den Vorfall mit Nadine Drake ging. Warum sind wir wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass er auf die Frage nach Freitagabend die Wahrheit gesagt hat?«
Sie sah die Wohnung wieder vor sich – die Unordnung, die
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