Wer Blut vergießt
zuführen musste, wenn sie sich auf den Beinen halten wollte, und weil das Frühstück eine gute Tarnung bot. Als ein Gast eine Zeitung liegen ließ, zog sie sie zu sich herüber und versteckte sich dahinter. Mit leerem Blick starrte sie die Fotos von Prominenten an, die sie nicht kannte.
Als genügend Zeit verstrichen war, verließ sie das Restaurant und ging zurück zur Charing Cross Road. Die Luft war wie mit Feuchtigkeit vollgesogen, und der Himmel wirkte dunkler als noch bei Tagesanbruch. Sie betrat die Buchhandlung Foyles und machte sich in der Damentoilette unauffällig frisch – auch dies eine Fertigkeit, die sie vor Jahren gelernt hatte.
Und dann, als die Gitarrenläden allmählich öffneten, schlenderte sie in die Denmark Street zurück. Sie hatte im Lauf der Jahre die Kunst perfektioniert, ziellos in Geschäften zu stöbern, um sich warm zu halten und die Zeit totzuschlagen, und das kam ihr nun zugute. Die Verkäufer waren allesamt Männer, und nach dem ersten – manchmal anerkennenden – Blick ignorierten sie Nadine, als hätten sie sofort erkannt, dass sie keine ernsthaften Kaufabsichten hatte. Wenn sie sich dann an ihre Anwesenheit gewöhnt hatten, fragte sie jeden ganz beiläufig, ob er einen alten Freund von ihr kenne, den sie schon die ganze Zeit besuchen wolle, seit sie in London angekommen war.
Der Gitarrenbauer im letzten Laden, ein Mann in mittleren Jahren mit einem Pferdeschwanz, blickte auf und lächelte. »Andy? Ja, ich hab gehört, dass er da einen guten Job gelandet hat. Spielt mit ’ner jungen Sängerin zusammen, die demnächst vielleicht ganz groß rauskommt. Er war erst neulich hier – wollte was an seiner Martin machen lassen. Er hat gesagt, er würde mit ihr Aufnahmen machen.«
»Oh. Das ist ja super für ihn.« Nadine schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln. »Hat er zufällig gesagt, wo?«
»Äh, in Crystal Palace. Dieses kleine Studio in der Nähe der Westow Street. Hab vergessen, wie die Seitenstraße heißt. Soll ich ihm was ausrichten, wenn er vorbeikommt?«
»Nein, vielen Dank. Ich werde ihm sicher früher oder später über den Weg laufen.«
Vom Bahnhof Gipsy Hill ging sie die Straße hinauf. Alle paar Minuten musste sie stehen bleiben und warten, bis der Nebel in ihrem Kopf sich verzog und der Schmerz in ihren Waden nachließ. Die unheimliche Dunkelheit nahm zu. Etwas Kaltes prickelte an ihren Wangen, der graue Wind fegte die Straße herunter und trieb körnige Schneeflocken vor sich her.
Nadine blieb stehen. Die Sicht hatte sich noch weiter verschlechtert, und sie konnte nicht mehr erkennen, wohin sie ging oder woher sie gekommen war. Es kam ihr vor, als schwebte sie, losgelöst von Raum und Zeit, in einem Niemandsland zwischen Erinnerung und Realität, in dem sie ewig umherirren könnte.
Aber sie musste zu Ende bringen, was sie begonnen hatte; musste die Dinge richtigstellen. Sie atmete tief ein, bis ihre Lunge brannte, und ging weiter. Die tückische Mischung verwandelte den Gehsteig allmählich in eine Rutschbahn.
Und dann, kurz bevor sie die Kuppe erreichte, sah sie Andy in die Westow Hill einbiegen. Er trug seinen Gitarrenkoffer über der Schulter und schien es eilig zu haben.
Sie folgte ihm.
Um ein Haar wäre er ausgerutscht, als er aus dem Studio rannte und die Treppe hinunterpolterte. »Mist«, murmelte er und hielt sich am Geländer fest, um dann den Rest des Weges ein bisschen vorsichtiger zurückzulegen. Jetzt konnte er das Eis auf den Metallstufen schimmern sehen, aber alles jenseits des kleinen Parkplatzes vor dem Studio war eine einzige graue Suppe.
Ein kalter Tropfen berührte seine Wange, wie eine Träne, dann ein zweiter und ein dritter. Eisregen, der in Schnee überging. Einen Moment lang war er versucht, die Gitarre doch hierzulassen, doch er wusste, dass er nicht zurückgehen konnte. Er hoffte nur, es bis zu seinem Ziel zu schaffen.
Nachdem es ihm irgendwie gelungen war, die steile Gasse hinaufzustapfen, ging er so schnell, wie er es eben wagen konnte, die Westow Street entlang und bog dann in die Westow Hill ein.
Als er die Woodland Road erreichte, blieb er stehen. Er hatte plötzlich Angst weiterzugehen. Was könnte sie sonst gemeint haben, wenn nicht ihre alte Adresse? Sie hatten sich nie irgendwo anders getroffen.
Und wenn er recht hatte … Wie würde es sein, sie wiederzusehen, wieder mit ihr zu sprechen? Könnte er ihr unter die Augen treten? Aber wenn sie ihn brauchte, musste er hingehen. Er würde Melody anrufen, sobald er
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