Wer Blut vergießt
meinen« – er ließ sein Lächeln aufblitzen –, »das machen alle Gitarristen so. Es ist unser Ruin. Wenn wir Glück haben, verdienen wir genug, um das Essen und die Miete bezahlen zu können – und dann kaufen wir Gitarren.« Er wies auf das zur Werkstatt umfunktionierte Schlafzimmer. »Wenn Sie ein bisschen geschickt sind, lernen Sie, Gitarren zu reparieren, die Sie in Secondhandläden und auf Flohmärkten finden, oder welche, die andere Gitarristen verkaufen müssen, um ihre Miete zu bezahlen.«
Etwas ließ Melody schon die ganze Zeit keine Ruhe, und jetzt wusste sie plötzlich, was es war. »Andy, Sie sagen, Sie hätten vor dem gestrigen Samstag noch nie mit Poppy gespielt, aber Sie waren schon mal in dem Studio, nicht wahr?«
»Nein. Tam und Caleb haben das organisiert.«
»Aber als ich das Belvedere Hotel erwähnte, da wussten Sie sofort, wo es ist. Und um was für eine Art Hotel es sich handelt.«
»Ich habe nicht behauptet, dass ich Crystal Palace nicht kenne. Ich bin dort aufgewachsen«, fügte er mit einer Grimasse hinzu. »Es ist zwar Jahre her, dass ich dort gewohnt habe, aber es hat sich nicht viel verändert, soweit ich das beurteilen kann. Es war Caleb, der den Gig in dem Pub organisiert hat, weil er mich spielen sehen wollte. Eine Art Vorsingen. Das ist ein Grund, warum Nick und George so gereizt waren.«
»Hm, ich würde ja sagen, Sie waren auch ein bisschen gereizt, wenn Sie einen Gast geschlagen haben«, erinnerte Melody ihn mit einem demonstrativen Blick auf seine Hand.
Andy bewegte die Finger hin und her und wirkte plötzlich reumütig. »Ja. Das war ziemlich blöd von mir. Glauben Sie mir, das ist sonst nicht meine Art. Aber ich habe was gegen Betrunkene. Und ich war sowieso schon stinksauer auf Nick und George, weil sie den Auftritt absichtlich sabotiert haben. Diese Wichser. Es war auch eine miserable Atmosphäre für jemanden, der eine Band richtig hören wollte. Ich weiß nicht, warum Caleb das Pub ausgesucht hat, außer vielleicht, weil er da keine Probleme hat, eine Band kurzfristig unterzubringen.«
War es das, was ihr gestern im Studio den Eindruck vermittelt hatte, dass er ihr etwas vorenthielt?, fragte sich Melody. Er hatte nicht über das Zerwürfnis in der Band reden wollen, nicht vor Poppy und Caleb. Caleb – Melody hielt inne. Sie kam sich plötzlich wie ein Volltrottel vor.
Caleb Hart war Stammgast in dem Pub. Und sie war so auf Andy konzentriert gewesen, so fasziniert von dem, was sie da zu hören bekam, dass sie nicht daran gedacht hatte, Hart selbst explizit nach Vincent Arnott zu fragen. Hart hatte keine Reaktion gezeigt, als sie Arnotts Namen erwähnt hatte, aber er hatte auch nicht ausdrücklich geleugnet, ihn zu kennen. Und selbst wenn ihm der Name nichts sagte, hieß das noch nicht, dass er ihn nicht vom Sehen kannte. Sie hätte ihm zumindest ein Foto zeigen müssen. Er könnte ihn sogar an diesem Abend gesehen haben, oder bei früheren Gelegenheiten.
»Andy«, fragte sie, »wie gut kennen Sie Caleb Hart?«
»Caleb? Ich habe ihn erst am Samstag kennengelernt. Er ist am Freitagabend ins Stag gekommen, aber da habe ich ihn nicht gesehen. Zum Glück ist er vor dem Ende des ersten Sets gegangen, sodass er nicht mitbekommen hat, wie ich mich zum Affen gemacht habe.«
»Was wissen Sie über ihn?«
»Er ist Manager und Produzent. Ziemlich einflussreich. Sie sollten Tam fragen. Die beiden kennen sich schon sehr lange.«
»Das werde ich. Aber zuerst rede ich mit Caleb Hart.« Sie blickte zu den Fenstern und sah, dass das einzige Licht inzwischen von den Natriumdampflampen auf der Straße kam. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es schon nach sechs war. »Verdammt«, murmelte sie. Die Zeit war wie im Flug vergangen, und sie hatte ihren Tee nicht einmal angerührt. »Andy, ich muss gehen. Entschuldigen Sie, dass ich Sie …«
»Ach du Scheiße.« Er starrte auf die Digitaluhr an seiner Musikanlage.
»Was?«
»Ich hab heute Abend einen Gig im 12 Bar. Mir war nicht klar, dass es schon so spät ist. Ich muss in einer halben Stunde dort sein, um aufzubauen.«
»Das 12 Bar?«
»In der Denmark Street. Ein Gitarrenclub. Eine richtige Spelunke, aber jeder gute Gitarrist in der Szene hat da irgendwann schon mal gespielt.«
»Ich kann Sie hinfahren«, erbot sich Melody. Unerklärlicherweise hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil er sich ihretwegen verspätet hatte.
»Nein, es ist nicht weit, und ich brauche nur meine Gitarre. Ich benutze den Verstärker vom Club.«
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