Wer Blut vergießt
Freitagabend, das war schon töricht gewesen, aber das hier war reiner Wahnsinn.
Der Mann an der Kasse rief ihr etwas zu, als sie an ihm vorbeikam, doch seine Worte verhallten, als sie auf die Straße hinaustaumelte. Blind wandte sie sich zur Charing Cross Road, schluchzend und nach Luft ringend. Das Wetter war umgeschlagen – sie spürte die Feuchtigkeit in der Luft, die Kälte, die ihr Gesicht wie mit Nadeln stach.
Und sie, sie war nicht länger unsichtbar. Passanten fluchten, als sie sie anrempelte, drehten sich zu ihr um, fragten sich, ob sie betrunken sei. Oder verrückt. Sie zwang sich, langsamer zu gehen, in die Schaufenster zu schauen, normal zu wirken.
Da, eine Buchhandlung. Und dort, der Laden mit den Miniatur-Nachbildungen von Gitarren, sorgfältig in Regalen präsentiert, jede mit einem kleinen Etikett versehen, das sie einem berühmten Gitarristen zuordnete.
Ein grausamer Scherz. Fröstelnd ging sie weiter. Ein Mann, der aus einem Döner-Laden kam, trat ihr direkt in den Weg. Diesmal war er es, der sich entschuldigte, der sie mit einer Hand an der Schulter packte, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor. Doch sie stand nur da und starrte wie hypnotisiert auf den Fernseher über dem Tresen des kleinen Ladens.
Dieses Gesicht – das war doch nicht möglich.
»Lady«, sagte der Mann mit den Kebabs, »ist alles in Ordnung?«
»Ja. Danke.« Sie brachte ein Nicken zustande, und er ging kopfschüttelnd seiner Wege. Dann zog sie die Tür auf und betrat den Laden, ohne auch nur für einen Moment den Blick vom Fernsehbildschirm zu wenden. Es war der Londoner Teil der Zehn-Uhr-Nachrichten. Das Bild flimmerte erneut über den Schirm, und dazu sagte die Stimme einer Nachrichtensprecherin: »Ein bekannter Londoner Rechtsanwalt wurde in der Nähe seiner Wohnung in South London tot aufgefunden. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe …«
Vom Rest bekam sie nichts mehr mit. Sie stand wie gelähmt da, während auf dem Bildschirm kleine Trickfilmwolken über eine Karte von Großbritannien zogen.
Es war nicht möglich. Das konnte nicht er sein.
Um Himmels willen, was hatte sie getan?
Als der zweite Gitarrist auf dem Programm sich bereit machte, nahm Andy ihr halb ausgetrunkenes Weinglas und stellte es auf den Sims, der an der Rückwand entlanglief. »Den Rest kannst du dir sparen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Er ist nicht so gut wie ich.«
Als er zurückging, um seine Gitarre zu holen, sah sie ihn einen kurzen Moment innehalten, den Kopf zur Treppe gewandt, einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf und packte seine Hummingbird ein, und ehe sie sich’s versah, hatte er sie schon die Treppe hinauf- und auf die Straße hinausgeschoben.
Das Wetter hatte sich verändert. Ein feiner Nebel hing in der Luft, und es roch schwer nach Regen.
»Wir werden klatschnass, wenn wir uns nicht beeilen«, sagte er, und sie gingen mit schnellen Schritten los, diesmal in Richtung Charing Cross Road. Andy trug in der einen Hand seinen Gitarrenkoffer, die andere berührte ihren Ellbogen.
Melody fühlte sich so meilenweit weg von ihrem gewohnten Selbst, dass es fast war, als hätte sie ihren Körper verlassen – nur, dass jede Faser in ihr von einer geradezu triumphierenden Lebensfreude erfüllt war. Das halbe Glas scheußlichen Weins, das sie getrunken hatte, hätte ebenso gut eine Flasche Champagner sein können, so euphorisch war ihr zumute.
Als sie Hanway Place erreichten, begann es zu tröpfeln. Andy knöpfte seine Jacke auf und breitete sie schützend über sie beide. Melody spürte die Wärme seines Arms an ihren Schultern, während sie die letzten Meter laufend zurücklegten und lachend ins Treppenhaus seines Blocks stolperten.
»Du kommst besser mit rauf und wärmst dich auf«, sagte er. »Ich mach dir eine Tasse Tee – vielleicht magst du ihn ja diesmal trinken.«
»Oh, tut mir leid. Er war gut, wirklich.«
Er lachte, und sie spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht. »Vielleicht war die Milch ja doch schon ein bisschen schlecht. Wir können ihn auch ohne trinken.«
»Nein, wirklich. Ich muss gehen. Ich habe morgen früh Dienst. Ich …«
Sie spürte, wie er sich zurückzog.
»Also gut. Danke, dass du mitgekommen bist. Wir sehen uns wieder, nicht wahr? Wenn du noch Fragen zu eurer Ermittlung hast?«
»Ja, danke. Es war wirklich nett.« Sie verfluchte sich. Hätte sie einen noch unangemesseneren Ausdruck finden können für das, was sie an diesem Abend empfunden hatte? »Ich
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