Wer Blut vergießt
Andy sah sie forschend an, und einen Moment lang kam sie sich so hilflos vor wie ein Schmetterling unter Glas. Dann nickte er, als ob er zu einem Entschluss gelangt wäre. »Kommen Sie doch mit.«
»Aber – Ich sollte …«
»Na, kommen Sie schon. Wenn Sie mit Caleb Hart sprechen wollen, würde ich Ihre Chancen, ihn an einem Sonntagabend zu Hause anzutreffen, als ziemlich gering einschätzen. Außerdem, wo bleibt Ihre Abenteuerlust?« Er legte den Kopf schief und beäugte sie schelmisch. »Und wenn Sie nichts von Musik verstehen, sind Sie es sich schuldig, daran etwas zu ändern.« Als er ihr verdutztes Gesicht sah, lachte er. »Es wird Zeit, dass Sie Ihrem Namen Ehre machen – finden Sie nicht, Melody Talbot?«
Andy verstaute die akustische Gitarre, auf der er zuvor für sie gespielt hatte, in einem Kasten, dann packten sie sich in ihre Mäntel und Jacken und tauchten an der Ecke von Hanway Place in das Gewühl auf der Oxford Street ein.
»Das ist meine Hummingbird«, erklärte er und klopfte dabei zärtlich auf den Kasten.
»Hummingbird?«
Er lächelte. »Die Gitarre. Eine Gibson Hummingbird von 1976. Ich besitze bessere Akustikgitarren, aber die hier hat einen ganz bestimmten Klang, der mir gefällt. Sie haben alle ihre eigene Persönlichkeit, ihre Stimme. Wie Menschen auch.«
»Wenn Sie meinen.«
»Warten Sie’s ab.«
Sie hatten die Oxford Street an der Ampel überquert und gingen am Bauzaun entlang, bis sie von Osten her in die kleine Denmark Street einbogen, vorbei an einem dunklen, quaderförmigen Kirchenbau.
»Die Straße der Gitarren«, sagte Andy, als sie den schmalen Eingang zu einem Club erreichten, mit einem Schild über der Tür, auf dem 12 Bar stand. Melody entdeckte ein Plakat im Fenster – eine einfarbige Version von Andys Gesicht auf rosa Papier, mit seinem Namen darunter.
»Sind Sie hier berühmt?«, fragte sie.
»Man kennt sich in der Szene.«
Der Typ am Einlass empfing Andy mit einem stürmischen Händedruck und Melody mit einem taxierenden Blick. »Und wen hast du da mitgebracht, Andy?«, fragte er.
»Melody. Lass sie in Ruhe, Ricky. Sie ist neu.«
»Na, dann viel Spaß«, wandte Ricky sich augenzwinkernd an sie. »Und Vorsicht mit den Gitarristen. Die sind gefährlich.«
»Hören Sie nicht auf ihn«, flüsterte Andy ihr zu, als er zur Bar voranging.
Er bestellte ihr ein Glas von dem einzigen Weißwein, der im Angebot war. Als Melody einen Schluck probierte, dachte sie, dass es ebenso gut Pferdepisse sein könnte, aber sie würde sich ganz bestimmt nicht beschweren.
»Er wird mit dem Alter besser«, meinte Andy, als er sie das Gesicht verziehen sah. »Wenn Sie hundert sind, wird er wie Nektar schmecken.«
Sie lachte und folgte ihm die Treppe hinunter in einen Kellerraum, der kleiner war als ihr Wohnzimmer. Es gab weder Tische noch richtige Stühle, nur ein paar Barhocker an der rückwärtigen Wand zwischen der Tür zur Tonkabine und einer Treppe, die zu einem winzigen Balkon hinaufführte. Die Betonwände schienen den Tabakgestank von Jahrzehnten auszudünsten, und Melody konnte sich nicht vorstellen, dass das Rauchverbot in absehbarer Zukunft etwas daran ändern würde.
»Schnappen Sie sich einen Hocker, solange noch was frei ist«, sagte Andy, und nachdem sie sich einen Platz neben der Tür zur Tonkabine gesichert hatte, plauderte er ein wenig mit dem Toningenieur und stieg dann auf die Bühne, um den Verstärker und das Mikro zu testen und seine Gitarre zu stimmen. Sie sah ihm zu und fühlte sich erstaunlich wohl in dieser fremden Welt, in der sie die Außenseiterin war.
Er kam noch einmal zu ihr zurück und trank ein paar Schlucke Bier, während die Zuhörer eintrudelten. Dabei erzählte er ihr kleine Anekdoten über die Geschichte des Clubs und die berühmten Gitarristen, die dort gespielt hatten, und begrüßte die Leute, die auf ihn zukamen und ihn ansprachen. Mit einem Mal war der Raum voll, der Toningenieur murmelte irgendetwas Unverständliches über die Lautsprecheranlage, und dann stand Andy auf der Bühne.
Vom ersten Moment an war ihr klar, dass das, was sie hier sah und hörte, ganz anders war als das, was er mit Poppy im Studio gespielt hatte. Da hatte sie eine Spannung wahrgenommen, das Bemühen, die jeweils einmalige Stimme und den ganz eigenen Stil des einen Musikers mit dem eines anderen zu verschmelzen, um etwas vollkommen Neues hervorzubringen.
Aber hier war es nur Andy mit seiner Gitarre, und sein Spiel war von einer so eleganten Leichtigkeit und
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