Wer Blut vergießt
Fall Ihres Bruders. Sie sind Amanda, nicht wahr? Amanda Francis?«
Die Frau nickte. Gemma schätzte, dass sie ungefähr in ihrem Alter war. Der Neigung ihres Bruders, um die Hüften Gewicht anzusetzen, entsprach bei ihr eine insgesamt fülligere Statur. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, als hätte sie schon geahnt, dass sie Trauer tragen musste, und ihr breites Gesicht war vom Weinen rot und verquollen. In einer fleischigen Hand hielt sie einen Styroporbecher mit Tee, der schon mit einer Haut überzogen war, in der anderen ein durchweichtes Papiertaschentuch.
»Erzählen Sie mir, was heute Morgen passiert ist«, forderte Gemma sie sanft auf. »Warum hatten Sie sich Sorgen um Ihren Bruder gemacht?«
»Wir – Wir arbeiten in derselben …« Amanda Francis’ Stimme versagte, und sie brach ab, um sich zu räuspern. »… Kanzlei. Shaun hatte heute Morgen einen Gerichtstermin. Ein wichtiger Prozess. Shaun mochte seine Fehler haben, aber sich zu verspäten, wenn es um einen Termin ging und er sich dadurch Vorteile versprach, das sah ihm gar nicht ähnlich.«
»Also haben Sie ihn angerufen?«
Amanda nickte. »Ich habe ein halbes Dutzend Nachrichten hinterlassen. Als die Verhandlung begonnen hatte und ich immer noch nichts von ihm gehört hatte, war ich außer mir vor Sorge. Ich dachte, er wäre vielleicht krank. Oder – Ich weiß nicht. Ich hätte nie gedacht …« Sie sah Gemma mit ihren dunklen Augen an, in denen der Schock stand. »Wie konnte – Warum sollte …«
Gemma tätschelte ihre Hand und griff in die Manteltasche, um die Reservepackung Taschentücher hervorzuholen. Es gab Momente, da zahlte es sich auch im Dienst aus, dass sie als Mutter stets auf alle Notfälle vorbereitet war. »Fangen wir doch mal ganz von vorne an, ja? Wenn ich richtig informiert bin, war Ihr Bruder Prozessanwalt, und Sie waren Kollegen. Sind Sie denn auch Anwältin?«
Amanda nahm das dargebotene Taschentuch und putzte sich die bereits geschwollene Nase. »Nein. Ich bin Rechtsanwaltsgehilfin. Ich bin zwei Jahre älter als er, aber als Vater starb, war nicht genug Geld da, um uns beiden eine gute Schule und anschließend ein Studium zu finanzieren. Also habe ich eine Ausbildung als juristische Hilfskraft gemacht, und als Shaun dann sein Jurastudium abgeschlossen hatte, habe ich den Leiter meiner Kanzlei dazu überredet, ihn einzustellen.« In ihrer Stimme rang Stolz mit Verbitterung.
»In Ihrer Kanzlei«, fragte Gemma mit ruhiger Stimme, »gibt es da einen anderen Prozessanwalt namens Vincent Arnott?«
Amanda sah sie verständnislos an. »Nie gehört, den Namen. Was hat das mit Shaun zu tun?«
Nun, das war also eine naheliegende Verbindung, die sie von ihrer Liste streichen konnte, dachte Gemma. Sie beschloss, die Sache anders anzugehen. »Standen Sie sich nahe, Sie und Ihr Bruder?«
»Ich weiß es nicht.« Amandas Lachen klang harsch. »Nach welchen Maßstäben? Nach denen anderer Geschwister? Alles, was ich Ihnen dazu sagen kann, ist, dass Shaun immer mich angerufen hat, wenn er irgendetwas brauchte. Nicht verzagen, Amanda fragen , das war das Motto.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Was soll ich jetzt bloß tun?«
Es klopfte an der Scheibe – die freundliche Streifenbeamtin war wieder da. »Danke«, sagte Gemma, während sie das Fenster herunterließ und den dampfenden Becher entgegennahm.
Die Ablenkung hatte Amanda Francis Gelegenheit gegeben, sich wieder zu fangen.
»Amanda, ist Ihnen in letzter Zeit an Shaun irgendeine Veränderung aufgefallen?«, fragte Gemma, als sie sich ihr wieder zuwandte. »Neue Freunde? Eine neue Freundin vielleicht? Hat er sich wegen irgendetwas Sorgen gemacht?«
»Shauns Beziehungen haben nie lange gehalten. Und was Freunde betrifft – er hat manchmal etwas mit Kollegen aus der Kanzlei unternommen. Und er war oft in dem Pub dort.« Sie blickte über den Platz hinweg. »Nicht, dass er mich je eingeladen hätte.«
»Und gestern – haben Sie da mit ihm gesprochen? Hat er Ihnen irgendetwas über seine Pläne erzählt?«
»Er wollte Squash spielen gehen und später ins Pub«, antwortete Amanda mit missbilligendem Schniefen. »Er war nie ein guter Sportler, aber vor einer Weile hatte er sich in den Kopf gesetzt, dass er unbedingt abnehmen müsste, und er hatte angefangen, am Wochenende Squash zu spielen. Neulich hat er sich einen Rückenmuskel gezerrt, und ich habe ihm gesagt, es wäre dumm, nicht noch etwas länger zu pausieren. Aber natürlich hat er nicht auf mich gehört …«
Sie brach ab und
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