Wer braucht denn schon Liebe
verflog. Gerührt kam er zu ihr herüber und nahm sie in die Arme. Es dauerte eine Weile, bis sie begann, sich in seiner Berührung zu entspannen, doch dann bettete sie ihren Kopf sanft an seine Brust.
Dieser Mann tut mir wirklich gut, dachte sie verträumt, während sie den würzigen Duft nach Heu und viel frischer Luft einatmete, der von ihm ausging.
»Ich habe nicht gesagt, dass du aufgeben sollst«, murmelte Lorenzo zärtlich in ihr Haar hinein. »Ich kenne nur keine Alternative.«
Danach versank auch er erst einmal in düsteres Schweigen. Wenn es jemanden gab, der zumindest annähernd wusste, wie sie sich in diesem Moment fühlte, dann war er es. Auch er war sein Leben lang hinter der Liebe seiner Mutter hergerannt. Er kannte das Gefühl, als Kind zurückgestoßen worden zu sein – der Schmerz hörte niemals auf. Schon mehr als einmal hatte er ernsthaft darüber nachgedacht, sich einer Therapie zu unterziehen. Doch dann stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass gerade sein melancholischer Blick die Frauen wie ein Magnet anzog.
Also hatte er das Problem zunächst vertagt.
Ganz in der Nähe schlug eine Kirchturmuhr acht Mal. Nur noch ein paar Stunden, bis die Nacht hereinbrach. Ein guter Zeitpunkt, um sich ein Quartier zum Übernachten zu suchen.
»Wo eine Kirchturmuhr schlägt, gibt es doch auch eine Kirche, stimmt’s?«, erkundigte Karen sich plötzlich verdächtig munter.
»Was führst du nun schon wieder im Schilde?« Seine Stimme verriet jede Menge Misstrauen.
Sie grinste ihn breit und ausgesprochen selbstzufrieden an. »Ich weiß jetzt, wie wir alle Fliegen mit einer Klappe schlagen können!«, triumphierte sie strahlend.
Vor Schreck drohten Lorenzos Gesichtszüge zu entgleisen.
»Sag ihm, dass wir morgen früh wieder abreisen müssen!«
Karen stellte sich auf die Zehenspitzen, um Lorenzo über die Schultern zu sehen, während er mit dem Küster der Basilika verhandelte, doch bei einem Längenunterschied von mehr als zwanzig Zentimetern war schon der Versuch zum Scheitern verurteilt. Sie bohrte ihm den Zeigefinger ins rechte Schulterblatt, damit er zur Seite trat.
»Jetzt misch dich nicht ein. Ich mach das schon!«, reagierte Lorenzo gereizt.
»Ist er einverstanden?«, raunte Karen ihm zu, wobei sie dem Küster, der bedauerlicherweise nur seine Muttersprache verstand, ihr unschuldigstes Lächeln schenkte.
»Nein, er sagt, das Kirchenarchiv sei nur in der Zeit zwischen zehn und zwölf Uhr vormittags geöffnet. Und zwar mittwochs, donnerstags und freitags.«
»Und welcher Tag ist heute?«
»Sonntag.«
»Mmh.« Karen versank in brütendes Schweigen. Unauffällig betrachtete sie sich den Küster dabei genauer: ein mickriger kleiner Kerl mit verkniffenen Gesichtszügen, auf den zu Hause vermutlich ein Feldwebel von Ehefrau wartete.
Wahrscheinlich würde er seinen Job und den halben Himmel dafür opfern, um zur Abwechslung mal wieder etwas Knackiges ins Bett zu bekommen, erkannte Karen, als sie seinen begehrlichen Blick in ihr Dekolleté auffing.
»Hörst du wohl auf damit!«, zischte Lorenzo ihr zu.
»Ich mach doch gar nichts!«
»Du flirtest mit einem Küster! Das ist schamlos!« Lorenzo tobte innerlich. Karen himmelte das kleine mickrige Männchen geradezu an. Ihre Augen glänzten feucht, und unentwegt benetzte sie sich mit der Zunge die Lippen.
»Das hier ist eine Kirche und kein Puff.«
»Du bist eifersüchtig?!«
»Ha! Dich könnte man mir auf den Bauch schnallen, und trotzdem würde zwischen uns nichts laufen!«
»Bist du sicher?«
»Absolut!«
»Prima. Dann ist zwischen uns ja alles klar.« Karen lächelte ihn offen und vertrauensvoll an – und Lorenzo beschlich das unangenehme Gefühl, dass sie ihn unbemerkt aufs Glatteis geführt hatte.
Während ihres kleinen Disputs hatte sich die Miene des Küsters sichtbar verfinstert. Karens Dekolleté war zwar nach wie vor beeindruckend, doch als sein Geschlechtsgenosse verstand er auch Lorenzos aggressive Körpersprache richtig zu deuten. Der Mann war scharf auf die Frau, aber noch nicht zum Zuge gekommen. Es wäre ein fataler Fehler, ihm ins Gehege zu kommen.
Demonstrativ rasselte der Küster mit dem Schlüsselbund.
Außerdem warteten zu Hause ja auch noch Maria, seine Frau, und die Kinder auf ihn.
Noch einmal ließ er seine Schlüssel rasseln. »Nichts zu machen. Er will, dass wir jetzt gehen«, übersetzte Lorenzo.
»Ausgeschlossen. Sag ihm, dass ich Kirchenasyl verlange!«
»Was?!« Völlig entgeistert starrte Lorenzo sie an.
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