Wer braucht denn schon Liebe
neunundzwanzig Jahren wusste er, dass es keinen entscheidenderen Moment in einer sexuellen Beziehung gab als den ersten Zungenkuss. Nutten wussten, weshalb sie fürs Küssen extra berechneten. Der Geschlechtsakt als solcher konnte notfalls auch ausschließlich mechanisch vollzogen werden. Doch mit einem Kuss funktionierte das nicht. Zu einem unvergesslichen, einzigartigen Kuss gehörte es einfach dazu, dass man seine Partnerin auch riechen und schmecken konnte. Ein richtiger Kuss war an Intimität nicht zu übertreffen. Und für einen Spitzenkuss gehörte sogar ein wenig Gefühl dazu.
Die Erkenntnis verflog so schnell, wie sie aufgetaucht war.
Seine Wut auf Karen war längst verraucht. Stattdessen rauschte ihm von ihren Küssen das Blut in den Ohren. Ganz von alleine begannen seine Hände ihren Körper zu erkunden. Er streichelte den sanften Bogen ihres Rückens, wanderte ihre Arme hinunter, modellierte die erstaunlich schmale Taille, verharrte schließlich bei ihren wohlgerundeten Hüften, wo er seine Hände zunächst ruhen ließ, um das Gefühl der Nähe auszukosten. Wie unendlich gut sie sich anfühlte, fest und nachgiebig zugleich. Schon jetzt war er dermaßen erregt, dass er sie am liebsten sofort genommen hätte.
Sein Blick blieb auf dem Polizeiwagen hängen, den er in einiger Entfernung hinter Bäumen versteckt hatte. Die Ladefläche hinten im Wagen war der richtige Platz, um seine Beziehung zu Karen in eine andere Dimension zu führen. Als ihre Hände wild über seinen Brustkorb glitten, spürte er, wie es Zeit wurde, hinüberzugehen.
Sehr behutsam, aber bestimmt, entzog sie sich ihm. »Habe ich also doch Recht gehabt!«, stellte sie mit klarer Stimme, in der ein Hauch von Triumph mitschwang, fest.
Lorenzo brauchte ein paar Sekunden, um seine Sinne wieder auf Normalempfang umzuschalten. »Womit?«, knurrte er drohend. Egal, was sie zu sagen hatte, ihrem Tonfall nach zu urteilen würde es ihm nicht gefallen.
»Du bist scharf auf mich!«
»Ach! Und du findest mich also völlig unattraktiv!«
Karen warf mit einem herausfordernden Lachen den Kopf in den Nacken. »Selbst Mister Universum persönlich beißt bei mir auf Granit. Ich bin kalt wie ein Eisschrank, schon vergessen?«
Prüfend musterte Lorenzo sie. Über ihr hübsches Gesicht mit der typischen hellen Farbe echter Rothaariger zog sich leichte Röte. Ihre Lippen waren vom intensiven Küssen geschwollen, und bei näherem Betrachten war ihr Blick nicht annähernd so klar, wie ihre Stimme forsch klang.
»Das glaube ich dir nicht.«
»Dann bist du dümmer, als ich dachte.« Karen hielt seinem Blick stand, hoffte jedoch inständig, dass er nicht bemerkte, wie ihre Knie zitterten.
No love, no trouble.
Natürlich wollte sie mit ihm schlafen. Niemals zuvor hatte ein Mann es geschafft, sie nur mit seinen Küssen derart zu erregen. Dank seiner Zärtlichkeit und Hingabe musste sie befürchten, dahinzuschmelzen, wenn er weitermachte. Doch vor ihrem inneren Auge leuchteten unübersehbar Warnhinweise auf.
Wenn man verliebt war, traf man Entscheidungen, die man später vielleicht bereute. Oder man verletzte ausgerechnet diejenigen, die einen am meisten liebten.
Wenn man verliebt war, verlor man den Boden unter den Füßen, schwebte auf rosa Wolken und vergaß das Wesentliche.
Und damit sie nicht denselben Fehler beging wie ihre Mutter, würde sie Lorenzo nun gnadenlos abservieren. Denn nach diesem Kuss gab sie sich keiner Illusion hin.
»Wenn er erst meinen Körper hat, dann stiehlt er auch mein Herz!« Erst als sie seinen entgeisterten Blick auffing, bemerkte Karen, dass sie laut gesprochen hatte.
»Scusi, irgendein Zitat, das mir gerade einfiel. Goethe oder Schiller, einer von beiden passt ja immer, irgendwie«, lachte sie nervös.
»Aber nicht hierher! Was hast du wirklich gemeint?«
Karen drehte ihm den Rücken zu und ließ ihn stehen. »Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen. Die Polizei ist uns bestimmt schon auf den Fersen.«
Wow! Echter Ganovenjargon.
Doch nach ein paar Schritten hatte Lorenzo sie eingeholt. Hart riss er sie zu sich herum. »So leicht kommst du mir nicht davon. Ich lasse mich nicht von einer Frau an der Nase herumführen.«
»Nicht mehr, meinst du wohl?«, gab sie schnippisch zurück.
Er ließ sie los, als hätte er sich verbrannt. »Ich habe dir vertraut. Aber wenn das deine Art ist, damit umzugehen, dann habe ich mich in dir getäuscht.« Lorenzos Stimme klang spröde. Sie hatte ihn verletzt.
Na also, das hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher