Wer braucht denn schon Liebe
fünf Uhr morgens, als Lorenzo sich wieder zu ihr gesellte.
»Nichts.« Blass und übernächtigt schlich er an ihr vorbei zu der Lücke im Regal, wo der Kirchenband des Jahres 1983 fehlte. »Und bei dir?«, fragte er, während er das Buch zurückstellte.
»Nur noch drei Seiten, dann bin ich durch.« Karen befürchtete ernsthaft, vor Müdigkeit vom Stuhl zu fallen, wenn sie ihre Haltung auch nur um Millimeter veränderte.
Lorenzo gähnte ungeniert. Trotz seiner Allergie warf er sich mitten im Staubzentrum auf den erstbesten Stuhl und schloss die Augen. Sekunden später ertönten seine gleichmäßigen, tiefen Atemzüge.
06. Dezember 1982. Noch zweieinhalb Seiten. Die Weihnachtskarte, die Petra Rohnert ihrer Tochter geschickt hatte, war vom 22. Dezember 1982.
Lorenzos Kopf fiel im Schlaf zur Seite. Sein Mund öffnete sich einen schmalen Spaltbreit und ließ seine weißen Zähne sehen, doch im Gegensatz zu Kevin, der in ähnlichen Situationen eher dümmlich ausgesehen hatte, wirkte Lorenzo so attraktiv wie nie. Karen konnte sich nicht satt sehen an ihm.
Wenn ich den Namen meiner Mutter auf den letzten Seiten finde, gönne ich mir eine Nacht mit diesem Mann als Belohnung, egal, was danach passiert.
Derart motiviert ging ihr das Suchen prompt wieder leichter von der Hand.
16. Dezember. 17., 18., 21. Dezember. Nichts. Auch am 22. Dezember keine Eintragung. Weihnachten. Die nächste Eintragung erst wieder am 27. Dezember 1982.
Petra Rohnert. Das war sie!
»Lorenzo, avanti! Ich habe meine Mutter gefunden!«
Er war sofort hellwach. »Zeig her!«
»Da steht ihr Name. Petra Rohnert. Das kleine Wort darunter kann ich nicht lesen.« Karen tippte mit dem Finger aufgeregt auf die Stelle, die sie meinte. Lorenzo beugte sich über das Buch und versuchte, die winzig kleinen handgeschriebenen Buchstaben zu entziffern.
»Was steht da?«
Karens Herz schlug Purzelbäume vor Freude.
Unfassbar!
Zweiundzwanzig Jahre lang hatte sie jeden Tag vergeblich auf eine Nachricht von ihrer Mutter gewartet. An schlechten Tagen glaubte sie manchmal selbst schon, sie hätte sich alles nur eingebildet. Diese Petra, deren Name auf der Weihnachtskarte stand, wäre eine völlig fremde Person. Eine, die mit ihr nichts zu tun hatte.
Nun plötzlich ihren Namen hier im Kirchenbuch zu lesen, rechtfertigte alle ihre Hoffnungen im Nachhinein.
»Hat sie geheiratet? Wie heißt sie jetzt? Nun sag doch endlich!«, drängte Karen ungeduldig.
Sie spürte gleich, dass etwas nicht stimmte, als sie ihn ansah. Er hob die Hände, als ob er sie beschützend in die Arme ziehen wollte, doch sie wich ihm aus.
»Es ist keine Heiratseintragung, stimmt’s?«
»Nein, deine Mutter … sie ist … tot … am 27. Dezember 1982 gestorben.« Lorenzos Worte füllten das alte Kellergewölbe und schienen die Zeit anzuhalten.
Ebenso wie Karens Herz.
Geschockt tastete Karen nach dem Stuhl, ließ sich blicklos darauf fallen. Als Lorenzo ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter legte, spürte sie es nicht.
Wieso trifft mich diese Nachricht nach all den Jahren noch?
»Ich weiß genau, wie du dich fühlst.« Lorenzos eindringliche Stimme drang nur leise an ihr Ohr, doch dankbar griff Karen nach seiner Hand, um unglücklich ihr Gesicht hineinzuschmiegen. Ungeweinte Tränen brannten in ihren Augen und schnürten ihr die Kehle zu.
Gerne hätte Lorenzo ihr mehr Zeit gelassen, doch unüberhörbar schlug die Kirchturmuhr halb acht. In wenigen Minuten würde der Küster sie daran erinnern zu gehen.
»Federico Gabano ist als Zeuge für ihren Tod benannt. Wenn du willst, helfe ich dir, ihn zu finden.«
Karen nickte bloß stumm. Ihr Gesicht blieb verschlossen und der Blick müde und leer. Sehr behutsam zog Lorenzo sie mit sich fort hinaus ans Tageslicht.
Karen kniete vor dem schlichten Grabstein ihrer Mutter und steckte eine hellrote Rose in die enge Vase, die dafür bestimmt war.
Petra Rohnert. 05.07.1957–27.12.1982.
»Sie ist gerade mal fünfundzwanzig geworden. Ich bin heute schon älter als sie«, rechnete Karen laut, als sie hinter sich Schritte auf dem knirschenden Kies hörte.
Lorenzo blieb neben ihr stehen und legte ihr nur seine Hand auf die Schulter. Am liebsten hätte Karen spontan seine Knie umklammert, um sie nie wieder loszulassen.
Ein kindischer Impuls, den sie verdrängte.
»Wie fühlst du dich?« Seine Stimme klang teilnahmsvoll und sanft.
Wie gut, dass du bei mir bist.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Merkwürdig, irgendwie. Ich glaube, mein
Weitere Kostenlose Bücher