Wer braucht denn schon Liebe
jeden Unbeteiligten auf der Hand, dass er das Opfer war.
»He! Ich brauche Ihren Namen und Ihre Adresse! Wo kann ich Sie erreichen?« Nach ein paar Schritten sah Karen ein, dass jede Verfolgung zwecklos war. Entmutigt ließ sie die Schultern hängen. Sie konnte den Ärger, der auf sie zukam, körperlich spüren, als der schwarze PKW neben ihr anhielt und auf der Fahrerseite die Wagentür geöffnet wurde. Sie wartete, bis der Mann sich selbst ein Bild von der Situation gemacht hatte, bevor sie mit ihren Erklärungen begann.
»Es war ein Unfall. Der Mann ging auf mich los und dann – Sie sehen ja selbst!«
»Avanti!«
»Äh … wie meinen Sie, bitte?!«, reagierte sie steif.
»Avanti! In den Wagen!«, befahl der Mann in gebrochenem Deutsch.
Ich denke nicht dran.
»Sind Sie von der Polizei?«, fragte sie mehr rhetorisch. Wie ein Polizist sah der Mann nicht aus, eher wie ein Pfarrer, so ganz in Schwarz. Schwarze Hose, schwarzes T-Shirt, schwarzer Lederblouson. Sogar die gegelten Haare glänzten schwarz.
»Nein«, brummte er mürrisch und musterte sie dabei mindestens genauso misstrauisch wie sie ihn. Warum bestand er so hartnäckig darauf, dass sie in seinen Wagen stieg? Das ergab nicht viel Sinn. Es sei denn …
Erleichtert schlug Karen sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Ein Missverständnis.
Entschlossen ging sie auf ihn zu. »Sie nehmen den Oberkörper, ich die Beine«, befahl sie energisch. »Obwohl …« Sie zögerte und betrachtete skeptisch die reglos und verkrümmt am Boden liegende Gestalt. »Sollten wir nicht doch lieber einen Krankenwagen rufen?«
Statt einer Antwort packte der Mann sie an der Schulter, um sie zu seinem Wagen zu bugsieren. In Karens Kopf überschlugen sich die Gedanken.
Der Kerl machte ihr ganz entschieden nicht den Eindruck eines barmherzigen Samariters. Außerdem irritierte sie sein Duft. Er kam ihr bekannt vor. Wenn ihr bloß einfallen würde, woher.
Widerspenstig stemmte Karen sich mit den Füßen fest gegen den Boden und versuchte dabei, in die richtige Ausgangsposition für einen gezielten Judowurf zu gelangen. Auch wenn der Typ nicht in ihrer Gewichtsklasse antrat, besaß sie eine Chance auf einen Überraschungsangriff. Aber sie musste sich beeilen. Sie hatten den Wagen beinahe schon erreicht.
Mit einer hundertfach geübten Drehung packte Karen den Mann an seiner Jacke und zog ihn mit einem Ruck zu sich herunter. Wie aus dem Lehrbuch nutzte sie seine Überraschung für sich aus, indem sie ihm von schräg unten ihre Hüfte in die Seite rammte. Sie wollte gerade zum Wurf ansetzen, als sie es spürte.
Er trug eine Waffe, einen richtigen Revolver.
Karen erstarrte mitten in der Bewegung.
Für den Mann in Schwarz die Gelegenheit, um Karen mit einigen groben Handgriffen auf der Rückbank seines Wagens zu verstauen. Er fesselte sie nicht, er knebelte sie nicht, aber er betätigte die Kindersicherung.
Benommen griff Karen nach dem Sicherheitsgurt.
Neben ihnen im Graben lag noch immer ein halb toter, wenn nicht sogar toter Mann. Anstatt sich um ihn zu kümmern, hatte seine Freundin ihn eiskalt den Vögeln zum Fraß überlassen. Karen selbst wurde soeben von einem undurchsichtigen Revolverhelden entführt.
Ihre sonstigen Probleme waren dagegen kaum der Rede wert.
Doch falls sie eventuell auch noch in einen Verkehrsunfall verwickelt werden sollte, dann wollte sie wenigstens angeschnallt sein.
Karen fragte sich, ob sie noch ganz normal war.
Ihr Entführer griff nach einer Papiertüte, die neben ihm auf dem Beifahrersitz lag und reichte sie Karen nach hinten, die jedoch zögerte, sie anzunehmen.
»Essen!«
»Essen?!«
Der Mann verlor die Geduld. Weil sie keine Anstalten machte, die Tüte anzunehmen, warf er sie einfach nach hinten auf ihren Schoß.
Misstrauisch spähte sie hinein: ein harmlos aussehendes Panino. Mit Schinken, Käse und frischen Tomaten. Dazu eine Miniflasche roter Barbera.
»Ist da ein Schlafmittel drin?«
Jeder, der sich seit seinem zehnten Lebensjahr regelmäßig zusammen mit seiner Großmutter den Freitagskrimi im Fernsehen ansah, musste diese Frage einfach stellen.
Nervös beobachtete Karen den Mann von der Seite, der seine Gedanken jedoch hinter einem undurchdringlichen Gesichtsausdruck verbarg. Nur seine Nasenflügel bebten fast unmerklich, soweit sie es im Rückspiegel überhaupt erkennen konnte.
»Du Nummer?«, raunzte er mit tiefer Stimme.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Karen ihn an. Darauf lief es also hinaus. Auf eine schnelle
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