Wer braucht denn schon Liebe
deine Mutter sich sehr darüber auf. Sie erlitt eine Fehlgeburt, als sie allein zu Hause war. Als ich sie fand, lebte sie noch, doch es war zu spät. Ihr Blut war bereits vergiftet. Sie starb noch in derselben Nacht.«
Einen Moment lang schwiegen sie beide ergriffen. Karen war von den zwiespältigsten Gefühlen erfüllt. Seit so vielen Jahren schon, fast ihr ganzes Leben lang, haderte sie mit ihrer Mutter, weil sie sich von ihr im Stich gelassen fühlte, doch was sie nun erfuhr, war eine völlig andere Geschichte. Wie war das möglich?
»Warum haben Sie uns nie geschrieben, dass meine Mutter tot ist?«
»Aber das habe ich doch getan.«
»Sagen Sie das noch mal!«
»Gleich nach Petras Tod habe ich deine Großmutter informiert. Sie weiß Bescheid.«
»Das glaube ich nicht.«
Federico tätschelte ihr mitfühlend die Hand. Dann schob er seinen Stuhl zurück, stand auf und kam mit einer Schale reifer Oliven zurück, die er vor Karen hinstellte.
»Iss. Es wird dir guttun.« Benommen steckte Karen sich eine Olive in den Mund. Sie schmeckte sie kaum. Aus dem Nebenzimmer kehrte Federicos Frau zurück, um die Herdplatte, auf der die Suppe immer noch beharrlich vor sich hinblubberte, herunterzuschalten.
»Du kannst mit uns essen, wenn du magst. Antonia kocht die beste Tomatensuppe der ganzen Gegend. Mit frischen Kräutern.«
Karen schüttelte den Kopf. Plötzlich musste sie an ihr Lieblingsessen denken, Bratkartoffeln mit Spiegelei, so wie ihre Oma sie zubereitete. Sie fühlte sich hundeelend.
»Danke. Danke für alles. Aber ein Freund von mir wartet unten an der Bushaltestelle auf mich. Ich muss gehen.« Ihr Aufbruch kam überstürzt, aber Federico machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten. Er ahnte, dass er mit seinen Worten Karens bisherige Welt zerschlagen hatte.
»Besuch uns, wenn du wieder in der Gegend bist. Du bist willkommen.«
»Bestimmt«, rang Karen sich ein gequältes Lächeln ab. Sie floh fast die Gasse hinunter zur Bushaltestelle. Ihre Absätze klapperten laut auf dem unebenen Steinpflaster. Als sie außer Sichtweite war, blieb sie stehen und schnappte panisch nach Luft.
Weg. Bloß weg hier.
Sie hatte Angst zu ersticken.
Acht
»Adeste fideles, laudis triumphale.«
In der Schule, als es um die Wahl der zweiten Fremdsprache ging, hatte Karen Französisch statt Latein belegt. Deshalb war sie sich jetzt auch keineswegs sicher, ob sie den richtigen Text zu der Melodie sang. Aber etwas anderes als das alte Weihnachtslied fiel ihr im Augenblick beim besten Willen nicht ein. In ihrem Kopf herrschte heilloses Durcheinander. Sie schaffte es nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Als sie dann auf dem Fahrplan auch noch entdeckte, dass die einzige Buslinie, die den Ort mit Pompei verband, erst am nächsten Morgen wieder verkehrte, bot sich ihr ausgerechnet das Weihnachtslied als Rettung an.
Weiß der Himmel, was das zu bedeuten hat.
Adeste fideles.
Zehn Kilometer bis Pompei, ein Katzensprung für eine geübte Wanderin, wie sie es mittlerweile war. Erst zwei Tage waren vergangen, seitdem Kevin sie mit seinem Liebesbekenntnis für eine rassige Italienerin quasi vor die Tür gesetzt hatte. Doch die Zeit hatte gereicht, um aus ihr eine völlig neue Frau zu machen.
Nicht unbedingt eine bessere.
Aber in jedem Fall eine, deren bisheriges Leben sich unaufhaltsam in seine Bestandteile auflöste.
»Adeste fideles«, schmetterte sie trotzig, während sie sich zu Fuß auf den Weg nach Pompei machte. Wie ein Kind, das sich im dunklen Wald verirrt hatte, sang sie aus vollem Hals. Sie ließ den Blick über die grünen Hügel schweifen, registrierte den strahlend blauen Himmel und den Vesuv, der sich harmlos und unscheinbar davor erhob. Doch die Bilder erreichten nicht ihr Herz.
»Mist!«, fluchte sie laut. »Ich bin sechsundzwanzig, sehe nicht allzu hässlich aus, wenn man von den paar Pfunden zu viel auf den Hüften einmal absieht, und bin beruflich erfolgreich. Hinter mir liegen Seminare für Rhetorik, Mitarbeiterschulung und Konfliktbewältigung. Da werde ich es doch wohl schaffen, mit dem klitzekleinen Problemchen fertig zu werden, dass meine Mutter seit Jahren tot ist und ausgerechnet meine Oma – der einzige Mensch, dem ich überhaupt noch vertraut habe – mich seit Jahren belügt!« Zornig schlug sie sich mit der Faust in die offene Handfläche.
Und dieser Mistkerl Lorenzo hat sich tatsächlich auch noch aus dem Staub gemacht.
Dabei hätte sie ihn gerade jetzt so gut gebrauchen
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