Wer den Himmel berührt
die Hölle.«
Cassie stand auf. »Fiona, meine Liebe, in dem Punkt stimme ich dir zu. Die Liebe ist die Hölle. Und jetzt gehe ich ins Bett.«
Am folgenden Morgen wurden sie von dem beharrlichen Läuten des Telefons geweckt. Fiona sprang als erste aus dem Bett und konnte auf dem Weg zum Telefon kaum etwas sehen.
»Es ist für dich«, rief sie. Ohne abzuwarten, ob Cassie sie auch nur gehört hatte, wankte sie wieder ins Bett.
Es war Steven Thompson.
»Jenny und ich fahren nach Tookaringa zurück, aber vorher wollen wir noch frühstücken, und wir hatten gehofft, Sie würden sich uns anschließen. Können Sie in einer halben Stunde fertig sein?«
Cassie sah mit schlaftrunkenen Augen auf ihre Armbanduhr. Es war gerade erst halb acht.
»Ich denke, schon«, sagte sie, obwohl sie noch nicht wirklich wach war.
Sie duschte sich schnell, fuhr sich mit einer Bürste durch das kurze Haar, zog ein hellblaues Leinenkleid an, das sie besonders gern mochte, trug sorgsam Lippenstift auf und schnappte sich ihre dunkle Brille. Hohe Absätze, beschloß sie und trat sich ihre Schuhe, die eher praktisch wirkten, von den Füßen. Und vielleicht ein breitkrempiger, naturfarbener Strohhut. Unter der sengenden Sonne des australischen Buschs hatte sie es sich angewöhnt, Hüte zu tragen, und dieser war weitaus kleidsamer als ihr Stetson.
Die Thompsons fuhren in einem Halbtonner vor. Sie hatte etwas Luxuriöseres und Schnittigeres erwartet. Aber wenn sie fast vierhundert Meilen durch eine unbewohnte Wüste fuhren, dann brauchten sie natürlich ein Fahrzeug, das diesem Gelände gewachsen war.
»Sie wollen doch nicht etwa den ganzen Heimweg in einem einzigen Tag bewältigen, oder doch?« fragte Cassie, als Steven vor Fionas Haus losfuhr. Jennifer saß zwischen ihnen.
»Nein«, sagte Jennifer, die das forsche Englisch der Oberschicht sprach und dazu neigte, Silben zu verschlucken. »Wir werden über Nacht bei Freunden Station machen. Wir kennen jeden auf der ganzen Strecke. Im Busch ist man immer und überall willkommen. Wir bekommen alle so selten Besuch, daß einem jeder Freude macht, der zufällig vorbeikommt.« Sie lachte. »Jedenfalls fast jeder.«
Steven hielt vor »Addie’s« an, sprang aus dem Wagen und lief eilig um ihn herum, um die Beifahrertür zu öffnen.
Cassie folgte Jennifer in die Kneipe. Sie mochte annähernd fünfzig sein, doch sie war schlank und schön, und ihr graumeliertes Haar war elegant frisiert. Wo konnte sie sich bloß das Haar so richten lassen? fragte sich Cassie. Jennifer trug ein weißes Seidenkostüm mit einer smaragdgrünen Bluse und weiße Pumps mit braunen Verzierungen und sehr hohen Absätzen, und sie sah aus, als verbrächte sie ein Wochenende auf einem englischen Landgut. Sie erweckte nicht den Eindruck, als sei sie bei »Addie’s« am richtigen Ort, aber gleichzeitig wirkte sie auch nicht so, als fühlte sie sich in dieser Umgebung auch nur im entferntesten gehemmt.
Steven zog erst Jennifer einen Stuhl zurück, dann Cassie. Während die Thompsons die Speisekarte lasen, musterte Cassie Steven. Fiona hatte recht. Er war wirklich eine Wucht. Breite Schultern über einer schmalen Taille und dazu sehr groß – größer als die meisten anderen Männer hier, mehr als einen Meter neunzig, vielleicht sogar über einsfünfundneunzig. In seinem kantigen und braungebrannten Gesicht zeigte sich deutlich, daß er den größten Teil seines Lebens im Freien zugebracht hatte. Er war ein enormer Mann. Große Hände. Große Füße. Ein strahlendes Lächeln. Klare blaue Augen. Er strahlte Macht aus. Groß und mächtig. Das wären die beiden ersten Wörter gewesen, die ihr in den Sinn gekommen wären, um ihn zu schildern.
Am Freitag abend war er zum Vorsitzenden des Rats gewählt worden. Niemand sonst konnte ihm das Wasser reichen, zumindest nicht in dieser Gegend.
Nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten und er ausdrücklich darum gebeten hatte, den Kaffee jetzt gleich zu bringen, vor dem Frühstück, stützte er die Ellbogen auf den Tisch und wandte sich an Cassie. »Es wäre uns lieb, wenn Sie Ihre ersten ambulanten Behandlungen in Tookaringa durchführen würden. Es ist das größte Gehöft im Norden. Kommen Sie am Freitag. Für uns arbeiten viele Aborigines, und eine ganze Menge von ihnen hat Familie. Wir haben außerdem mehr als hundert andere Arbeiter eingestellt. Jennifer und ich finden, es wäre schön, wenn Sie und Sam am Freitag zu uns fliegen und über das Wochenende bleiben würden.
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