Wer den Himmel berührt
lag auf einem Sofa und war mit einer Steppdecke zugedeckt, und ihr gewelltes kastanienbraunes Haar fiel auf ein Kissen. Sie begrüßte Cassie mit einem matten Lächeln.
»Wie reizend von Ihnen«, sagte sie, und ihre dünne Stimme hieß Cassie herzlich willkommen. »Irgendwie habe ich nicht damit gerechnet, daß Sie mich besuchen würden. Chris hat mir von Ihnen erzählt. Aber ich erwarte nicht, daß Neuankömmlinge bei mir vorbeischauen.« Isabel wandte sich an die korpulente Frau, die die Tür geöffnet hatte. »Grace, was hältst du davon, wenn wir alle zusammen den Nachmittagstee einnehmen? Dr. Clarke, das ist Grace Newcomb.« Sie legte eine Hand auf Grace’ Arm. »Ich wüßte nicht, was ich ohne sie täte.«
Grace lächelte. »Es ist schon alles vorbereitet. Mögen Sie Gurkenbrote?«
Gurkenbrote waren Cassie ein Greuel. »Für mich nur eine Tasse Tee, bitte«, sagte sie. »Ich habe wirklich keinen Hunger.« Isabels Arme waren nicht viel dicker als Streichhölzer.
»Ich habe nie Hunger«, sagte Isabel. »Früher hat es mich solche Mühe gekostet, schlank zu bleiben, und schauen Sie mich jetzt an. Aber wir wollen nicht über mich reden. Ein neues Gesicht, wie erfrischend. Neuigkeiten aus der Außenwelt!«
»Ich bin gekommen, um zu sehen, ob ich irgend etwas für Sie tun kann. Zwei große Bücherkisten sind schon eingetroffen, und ich habe Schallplatten …«
»Das ist schrecklich nett von Ihnen. Aber irgendwie scheint mir die Energie zum Lesen zu fehlen, die Kraft, ein Buch länger in der Hand zu halten.«
»Möchten Sie vielleicht, daß ich Ihnen vorlese? Ich habe ein paar brandneue Bücher da.«
Isabels Augen begannen zu leuchten. »Oh, täten Sie das wirklich? Chris haßt es, laut zu lesen. Es würde mir enorme Freude machen. Das wäre ja so nett von Ihnen. Haben Sie rein zufällig
Vom Winde verweht
?«
Cassie nickte. »Ja, und ich finde es ganz wunderbar.«
»Sie haben es gelesen? Tja, in dem Fall würde es Ihnen bestimmt nicht viel Spaß machen, es noch einmal zu lesen …«
»Ganz im Gegenteil. Ich hätte große Lust darauf.«
»Und
Rebecca
? Ich habe gehört, das soll auch ein wunderbares Buch sein.«
»Ich besitze beide«, sagte Cassie lächelnd.
Sie konnte Isabel nicht versprechen, ihr täglich vorzulesen, da sie sich über ihren Tagesablauf nicht im klaren sein konnte, doch sie vereinbarten miteinander, daß Cassie am späten Nachmittag ins Haus der Adams kommen würde, nach dem Funkkontakt mit den Patienten um sechzehn Uhr fünfundvierzig, vorausgesetzt, sie wurde dann nicht anderswo gebraucht.
In jener ersten Woche las sie Isabel an drei Nachmittagen vor, und was sie dazu veranlaßt hatte, war ihr selbst nicht klar. Isabel war sichtlich enttäuscht, als Cassie am Donnerstag ankündigte: »Wir fliegen am Wochenende erstmals zu ambulanten Behandlungen in den Busch, und daher werde ich nicht dasein.«
Sie redeten nicht viel miteinander, denn sowie Cassie eintraf, stellte Grace Tee auf den Tisch neben ihr und nahm auf einem Stuhl Platz. Sowohl sie als auch Isabel konnten ihre Ungeduld kaum zügeln. Sie warteten beide nur darauf, daß Cassie mit den Abenteuern derer fortfuhr, die auf Tara und Zwölf Eichen lebten.
Cassie bekam Chris Adams kein einziges Mal zu sehen. Er war nie da, wenn sie gegen sechs Uhr fortging.
Was ihren beruflichen Alltag betraf, bereitete es ihr Schwierigkeiten, sich daran zu gewöhnen, über Funk Diagnosen zu stellen. Dennoch fiel ihr das erheblich leichter als der Versuch, am Telefon eine Behandlung zu verordnen, da sie in ihrem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung oft keine Unterstützung hatte. Sie konnte sich nicht nur nach den Symptomen richten, die ihr geschildert wurden, wenn sie etwas verschreiben wollte, sondern sie mußte mehr über die medizinische Vorgeschichte des Patienten und den Verlauf der Krankheit wissen, was diejenigen am anderen Ende der Leitung häufig erboste. Sie mußte ganz genau wissen, wo der Schmerz saß und welche Symptome auftraten, und im allgemeinen war der Anrufer nicht imstande, ihr genau zu beschreiben, was dem Patienten fehlte. Jeder einzelne dieser Anrufe frustrierte Cassie. Sie hatte den Verdacht, daß die Patienten manchmal anriefen, weil sie sich einsam fühlten, vor allem die Frauen. Symptome, die sie an sich selbst feststellten, faßten sie nicht in klare Worte, und die Symptome ihrer Kinder schilderten sie hysterisch. Sie sehnten sich verzweifelt danach, eine andere Stimme zu hören. Cassie stellte mit der Zeit
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