Wer den Himmel berührt
Ich kann mir gut vorstellen, daß sie es aushält.«
Cassie drehte sich zu Estelle um und sah die anderen Töchter, die auf Stühlen saßen oder an der Wand lehnten. Eine von ihnen saß auf dem Teppich, und alle beobachteten die Behandlung gebannt. Sam war unsicher geworden.
Als eine der Töchter das abgekochte Wasser brachte, schlitzte Cassie die nässende rote Wunde auf und sah, wie der Eiter an Mirandas Bein hinunterlief. Sie spürte, wie das Mädchen zusammenzuckte, doch als sie zu ihr aufblickte, nickte Miranda nur mit zusammengebissenen Zähnen. Das nenne ich Mumm, dachte Cassie. Damit hätte ich vielleicht draußen auf der Weide gerechnet, wo Männer unter Beweis stellen wollen, daß sie allem gewachsen sind, aber doch nicht hier. Nicht unter all diesen Frauen.
In zehn Minuten war alles erledigt. »Ich will nicht, daß sie in den nächsten zehn Tagen bis zwei Wochen aufsteht. Und auch dann nur ein paar Minuten täglich.«
Die Mutter nickte, doch eines der Mädchen sagte im Scherz: »Okay, Andy, das hast du also nur getan, um dich vor der Arbeit zu drücken. Weil wir gerade dabei sind, die abgelegensten Weiden einzuzäunen.«
»Jetzt sei bloß still«, sagte Estelle lachend. »Wenn hier jemand gern so weit vom Haus entfernt arbeitet, dann ist das Andy.«
»Das war doch nur ein Scherz, Ma.«
»Ich werde hier vor Platzangst umkommen, und das wißt ihr alle«, sagte Miranda.
»Jetzt reicht es aber«, sagte Estelle. »Ihr Mädchen, seht zu, daß der Kessel dampft. Diese Leute wollen bestimmt eine Tasse Tee, ehe sie aufbrechen.«
Es gab Tee, Obstkuchen, Toast und Himbeermarmelade. »Wonach ich mich manchmal verzehre, das sind Scones«, sagte Estelle.
»Oder Hafergrütze ohne Klumpen«, sagte Cassie.
Sie saßen in der riesigen Küche um einen Tisch herum, an dem ein Dutzend Leute problemlos Platz fand und immer noch Ellbogenfreiheit gehabt hätte.
»Mein Mann ist vor sechs Jahren gestorben«, sagte Estelle. »Seitdem haben meine Töchter nicht mehr viele Männer zu Gesicht bekommen. Deshalb starren sie Sie so an«, entschuldigte sie sich bei Sam.
»Ma’am, soll das heißen, daß dieser Betrieb von Damen geleitet wird, etwa von Ihnen?«
»Ich kann Ihnen nur raten, das zu glauben«, warf eines der Mädchen ein.
»Das ist Alberta«, sagte ihre Mutter. »Ich sollte meine Töchter jetzt wohl wirklich vorstellen, obwohl Sie sich all diese Namen ja doch nicht werden merken können. Fangen wir doch einfach bei der Ältesten an. Das ist Heather, die dort drüben sitzt.«
Heather starrte Sam bewundernd an, ohne mit einer Wimper zu zucken. »Das ist die nächste, Wilhelmina – Billy. Nach ihr kommt Andy, die auf dem Sofa liegt. Das da ist Alberta, Bertie. Da drüben«, sagte sie und deutete hin, »sitzt Louisa – Lou. Und die letzte ist unsere kleine Paulie.« Cassie fiel auf, daß sie mit Ausnahme von Heather alle männliche Spitznamen hatten. »Klar, wir leiten die Ranch. Zweihundertfünfzigtausend Morgen. Mehr als sechshundert Stück Vieh.«
»Brauchen Sie denn keine Männer für die Schwerarbeit, die harte körperliche Arbeit?« fragte Sam.
Estelle schüttelte den Kopf. »Nicht eine Minute. Selbst als Earl noch am Leben war, haben er und die Mädchen und ich alles selbst getan. Sie sind damit aufgewachsen, das zu tun, was als Männerarbeit angesehen wird. Die Arbeiten im Haus langweilen sie.«
»Wir bekommen zweimal im Jahr eine Lieferung von Teakle und Robbins«, sagte Heather. »Ich bin die einzige, die je in der Stadt gewesen ist. Niemand sonst, außer natürlich Ma, hat je die Ranch verlassen.«
»Was ist mit Kleidern und Schuhen und …« hakte Sam nach.
»Oh, Mr. Teakle hat unsere Maße und schickt uns neue Kleidung, wenn wir darum bitten. Wir brauchen keine Kleider, und Arbeitskleidung für Männer hält sehr lange.«
Cassie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und lachte. »Das schießt ja wirklich den Vogel ab. Ich habe noch nie von sechs Frauen gehört, die eine Ranch leiten und nie in die Stadt gehen.«
»Ich habe Ihnen das Lesen und das Rechnen beigebracht«, sagte Estelle. »Ich bin in Sydney aufgewachsen und habe dort die Schule abgeschlossen. Dort habe ich Mr. Martin kennengelernt. Earl. Ich war Sekretärin in der Eisenwarenhandlung, in der er gearbeitet hat, und er hat sich nie etwas anderes auf Erden gewünscht als seine eigene Rinderzucht. Wir haben genug Geld für eine Anzahlung zusammengespart, einen alten Dodge gekauft und geheiratet, und dann sind wir hergefahren und nie
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