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Wer den Himmel berührt

Wer den Himmel berührt

Titel: Wer den Himmel berührt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Bickmore
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spritzte Adrenalin.
    »Wie ist das passiert?« fragte Cassie, als sie aufstand.
    Ina reichte ihr das Ätherfläschchen und die Maske. »Wahrscheinlich hat er gegen ein Gesetz des Stammes verstoßen. Wir werden es nie genau erfahren. Wer auch dazu bestimmt worden sein mag, das Todesurteil zu vollstrecken, es ist ihm nicht gelungen. Wird er wieder gesund werden?« Das konnte Cassie beim besten Willen nicht wissen. »Sam hat gute Arbeit geleistet.« Ihr fiel auf, daß er verschwunden war. »Ich habe keine Ahnung. Mit etwas Derartigem habe ich bisher noch nie zu tun gehabt. Wenn wir nicht gerade in dem Moment gekommen wären, wäre er schon tot gewesen.«
    »Gottes Wege sind unergründlich?« Ina lächelte. »Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee?«
    »Eigentlich nicht«, sagte Cassie. »Ich brauche etwas Kaltes.« Ina schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Das haben wir hier nicht.«
    Sam stand unter einer der Palmen und rauchte.
     
    Was Cassie bei ihren ambulanten Behandlungen zu sehen bekam, waren offene Wunden und Narben, die von der Lepra geblieben waren, die inzwischen weitgehend ausgerottet war. Und Frambösie. Alte Verletzungen, die lange Zeit vernachlässigt worden waren. Alles Frauen. Oder Kinder.
    Ein junges Mädchen, das nicht älter als zwölf Jahre sein konnte, hatte Streifen auf dem Bauch. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich es für Schwangerschaftsstreifen halten«, bemerkte Cassie.
    »Genau das ist es«, sagte Ina, die den ganzen Morgen dicht neben ihr gestanden hatte. »Sie kriegen Babys, wenn sie selbst noch Babys sind. Sie müssen das verstehen. Männer mißbrauchen Frauen und kleine Mädchen, wann immer sie es wollen. Sie können einen Weg hinunterlaufen und eine Frau oder ein Mädchen sehen, das sie wollen, und die nehmen sie sich dann an Ort und Stelle. Das hat bei ihnen keinerlei Bedeutung.«
    »Und für die Frauen auch nicht?«
    Ina zuckte die Achseln. »Wer weiß? Es macht ihnen nicht zu schaffen, wie es uns zu schaffen macht. Ich sage mir, wenn ich mich über ihre Sitten entrüste, dann sollte ich nicht hier sein. Schließlich halte ich mich in ihrem Land auf. Ich versuche allerdings, dafür zu sorgen, daß die Frauen und die Kinder nicht so oft geschlagen werden. Im Grunde genommen sind die Aborigines sanftmütige Menschen. Sie denken nur ganz einfach nicht so wie wir. Sie leben für den Augenblick, ohne auch nur einen Gedanken auf die Zukunft zu verschwenden. Das, was sie wollen, nehmen sie sich augenblicklich. Die Gesetze des Stammes gelten nicht für Frauen, oder falls sie es doch tun, dann wissen die Frauen es nicht. Frauen ist es nicht erlaubt, bei den Stammesritualen anwesend zu sein oder auch nur die Gesetze zu kennen.«
    Cassie starrte Ina an. »Wie halten sie es bloß aus, unter diesen Menschen zu leben? Bringt es Sie nicht um den Verstand?«
    Ina lächelte, doch in ihrem Lächeln schwang auch Melancholie mit. »Ich bin nicht sicher, warum ich es tue. Ich dachte, es läge an Gott. Deshalb bin ich hergekommen. Jetzt gefällt es mir hier. Ich könnte nicht nach England zurückgehen. Hier kann ich die Probleme der Leute wenigstens auf ihre Unwissenheit oder auf ihre Unschuld schieben, wie Sie es lieber nennen wollen. Wem kann ich die Schuld an den Problemen der modernen Zivilisation zuschieben? Die Menschen in unserer Welt wissen genau, daß sie nicht tun dürften, was sie tun, aber sie tun es trotzdem.«
    Das verbreitetste Problem waren Zahnschmerzen. Cassie zog elf Zähne. Die einzige Zange zum Zähneziehen, die sie hatte, mußte für Zähne im Unterkiefer und im Oberkiefer und für abgebrochene Zahnstümpfe dienen.
    »Ihnen wird auffallen«, sagte Schwester Ina, »daß die Frauen das Zähneziehen ausnahmslos stoischer hinnehmen.«
    Die Schmerzen brachten sie fast um den Verstand, und sie fürchteten sich vor der Ärztin und den Instrumenten gleichermaßen, doch wenn der Zahn erst einmal draußen war, vollzog sich im Gesicht jedes einzelnen Patienten eine Verwandlung, die deutlich die Erleichterung zeigte. Das Ziehen des Zahns verursachte weniger Schmerzen als die, die der Patient bereits erlitten hatte. Im allgemeinen waren die Patienten erstaunt, wenn sie den Zahn verloren hatten und feststellten, daß der furchtbare Schmerz vergangen war.
    Es war drei Uhr nachmittags, ehe sie zum Aufbruch bereit war. Schweiß strömte über ihr Gesicht und rann in ihre Augen, in denen das Salz brannte. Immer wieder wischte sie sich den Schweiß mit einem Taschentuch ab, das schon bald

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