Wer den Himmel berührt
wir sie bestechen könnten.«
»Wie kommt es, daß Sie so viele Aborigines hier haben?«
»Sie sind großartige Spurenleser«, antwortete Steven. »Und Viehtreiber. Niemand sonst kann so mit Rindern umgehen. Sie gehören einfach auf Pferde. Und sie halten sich etwas darauf zugute. Ich habe noch nie einen faulen Viehtreiber gesehen. Ich glaube, die Aborigines haben dafür einen Instinkt. Und wenn man einen von ihnen einstellt, bringt er automatisch seine Familie mit auf das Land. Wir bezahlen ihnen nicht viel, denn sonst könnten wir es uns niemals leisten, so viele zu beschäftigen, wie es der Fall ist, aber wir ernähren ihre Familien, bieten ihnen Unterricht an, wenn sie Interesse daran haben …«
»… was gewöhnlich nicht der Fall ist«, sagte Jennifer.
»Das ist wahr. Traurig, aber wahr.«
»Warum traurig?« fragte Jennifer. »Was könnten wir ihnen schon zu der Lebensweise beibringen, die sie führen wollen?«
»Wir können ihnen etwas über eine Lebensweise nahebringen, in die sie sich einfügen müssen«, antwortete Steven, doch Cassie hatte den klaren Eindruck, daß sie dieses Thema schon viele Male miteinander abgehandelt hatten. »Morgen werden Sie Ihre ersten Erfahrungen in einer Aboriginemission machen, stimmt’s?«
»Yancanna?«
»Nein, das ist ein AIM -Hospital. Das ist am Montag. Morgen sind Sie in Narrabinga. Die Mission wird von einer katholischen Nonne geleitet.«
Die Missionarin trug Shorts. Das war ja schon ein guter Anfang, dachte Cassie. Etwas, was sie hier oben in den Tropen, wo es zu heiß für lange Hosen war, selbst gern getan hätte. Die Männer, die sie gesehen hatte, trugen alle Shorts und Kniestrümpfe. Letzteres erschien ihr ein wenig affig. Wenn diese Frau Shorts tragen konnte, würde Cassie vielleicht auch so dreist sein, es auszuprobieren. Aber erst nachdem die Leute sich an ihre Herrenhosen gewöhnt hatten. Diese Veränderungen würde sie langsam in Angriff nehmen müssen.
Die Shorts der Missionarin waren ausgebeult und lang. Ihre Weiblichkeit unterstrichen sie jedenfalls gewiß nicht. Sie strahlte keinerlei Reiz aus. Ihr mausgraues Haar machte den Eindruck, als hätte sie sich eine Schüssel aufgesetzt und um den Rand herum geschnitten. Sie trug eine Brille mit einem Schildpattgestell, das auf ihrer Nasenspitze saß.
»Gott sei Dank«, sagte die Frau. »Ich bin Schwester Ina.« Sie drückte Cassie energisch die Hand. »Wir hoffen, daß wir bald ein fußbetriebenes Funkgerät bekommen, aber im Moment haben wir noch keines, und wir haben einen Fall, der dringend ärztliche Behandlung braucht.«
Ohne jede weitere Einführung machte sie auf dem Absatz kehrt und fiel mehr oder weniger in einen Dauerlauf, als sie sich zu dem niedrigen Gebäude mit dem Wellblechdach begab, das im Schatten hoher Palmen stand.
Mit der Arzttasche in der Hand folgte ihr Cassie. Auf dem Lehmboden lag ein Schwarzer ausgestreckt auf dem Bauch. Sein Gesicht war von der Tür abgewandt, doch seine beiden Hände waren in einer Form neben ihm gespreizt, als hätte er sich dort einfach fallen lassen. Zwischen den Schulterblättern ragte ein Speer aus seinem Rücken heraus. Er war fast anderthalb Meter lang.
»Um Himmels willen!« rief Cassie aus.
»Er ist vor weniger als einer Stunde hier angekommen, und wir wissen nicht, wie wir das Ding rauskriegen können.«
Cassie kniete sich neben ihn. »Wie lange ist er schon bewußtlos?« fragte sie.
Der Tonfall der Missionarin war grimmig. »Er ist nicht bewußtlos.« Sie sagte etwas, was Cassie nicht verstand, und der Mann öffnete ein Auge. Er stieß einen ächzenden Laut aus und schloß das Auge wieder. Sie konnte erkennen, daß der Speer nur um Haaresbreite das Rückenmark verfehlt hatte. Er hatte ganz offensichtlich nicht das Rückgrat splittern lassen, denn das hätte zum sofortigen Tod geführt. Der Winkel, in dem der Speer aus dem Rücken des Mannes ragte, ließ Cassie vermuten, daß er dicht an seinem Herzen saß, aber wenn er die Hauptschlagader durchbohrt hätte, wäre der Mann nicht mehr am Leben. Nichts in ihrem Medizinstudium hatte sie auf eine solche Situation vorbereitet.
In dem Moment kam Sam zur Tür herein.
»Mein Gott«, sagte er.
»Meiner auch«, sagte Schwester Ina. »Wir versuchen dahinterzukommen, wie wir das Ding rauskriegen. Reichlich kritisch, was?«
»Das ist noch untertrieben! Wir brauchen Werkzeug, andere Instrumente als die, die ich bei mir habe.« Cassie stand auf. »Haben Sie Zangen? Oder
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