Wer einmal lügt
hier im Zimmer«, flüsterte die alte Frau.
Megan ging zum Bett und zog ihre Schwiegermutter zu sich heran. Agnes Pierce hatte im Laufe des letzten Jahres so viel Gewicht verloren, dass es sich anfühlte, als würde sie in einen Sack voller Knochen greifen. Agnes war eiskalt und zitterte in ihrem zu großen Nachthemd. Megan hielt sie ein paar Minuten im Arm und beruhigte sie auf die gleiche Art, wie sie ihre Kinder beruhigt hatte, wenn sie mit Alpträumen aufgewacht waren.
»Entschuldige«, sagte Agnes schluchzend.
»Psst, es ist schon gut.«
»Ich hätte dich nicht anrufen sollen.«
»Ich will doch, dass du mich anrufst«, sagte Megan. »Du musst mich immer anrufen, wenn dir irgendetwas Angst macht, okay?«
Der Uringeruch war unverkennbar. Als Agnes sich beruhigt hatte, half Megan ihr, die Windel zu wechseln – Agnes weigerte sich, Megan das alleine machen zu lassen – und auch, sich wieder ins Bett zu legen.
Als sie so weit fertig waren und nebeneinander auf dem breiten Bett lagen, sagte Megan: »Willst du darüber sprechen?«
Agnes liefen Tränen über die Wangen. Megan sah ihr in die Augen, weil ihre Augen immer noch viel erzählten. Erste Anzeichen der Demenz waren vor drei Jahren in Form einer gesteigerten Vergesslichkeit aufgetreten. Sie hatte ihren Sohn Dave Frank genannt – nicht der Name ihres verstorbenen Ehemanns, sondern der ihres ehemaligen Verlobten, der sie vor fünfzig Jahren vor dem Altar sitzen gelassen hatte. Die einst liebevolle Großmutter konnte sich nicht mehr an die Namen ihrer Enkel erinnern – wusste manchmal nicht einmal, wer sie waren. Kaylie machte das Angst. Paranoia wurde zu Agnes’ dauerndem Begleiter. Sie hielt Fernsehserien für real und hatte Angst, dass der Mörder aus CSI : Miami sich unter ihrem Bett versteckte.
»Er war wieder hier im Zimmer«, sagte Agnes noch einmal. »Er hat gesagt, er will mich umbringen.«
Das war eine neue Wahnvorstellung. Dave hatte versucht, damit umzugehen, hatte aber nicht die Geduld dafür. Während des letzten Super Bowls, kurz bevor Dave und Megan klar geworden war, dass Agnes nicht mehr alleine wohnen konnte, hatte sie darauf beharrt, dass das Footballspiel nicht live übertragen wurde, sondern dass sie es schon gesehen hätte und wüsste, wie es ausginge. Anfangs hatte Dave ganz jovial gefragt: »Oh, wer hat denn gewonnen, so einen kleinen Wettgewinn könnten wir gut gebrauchen«, worauf Agnes antwortete: »Ach, das wirst du schon sehen.« Aber Dave hatte nicht lockergelassen. »Ach ja, und was passiert jetzt?«, hatte er mehrmals gefragt und war dabei immer wütender geworden. »Guck doch«, hatte Agnes geantwortet, und sobald ein Spielzug zu Ende war, leuchtete ihr Gesicht auf und sie verkündete: »Seht ihr? Hab ich euch doch gesagt.«
»Was hast du uns gesagt?«
Megan: »Lass gut sein, Dave.«
Agnes sah ihren Sohn weiter nickend an. »Ich habe dieses Spiel schon einmal gesehen. Das habe ich euch doch gesagt.«
»Und wer hat gewonnen?«
»Ich will euch nicht den Spaß verderben.«
»Es ist live, Mom. Du kannst es nicht wissen.«
»Natürlich weiß ich es.«
»Und wer hat gewonnen? Sag mir einfach, wer gewonnen hat.«
»Ich soll euch den ganzen Spaß verderben?«
»Du verdirbst mir damit nicht den Spaß. Erzähl mir einfach nur, wer gewonnen hat.«
»Ihr werdet schon sehen.«
»Du hast das Spiel nicht gesehen, Mom. Das läuft jetzt gerade.«
»Natürlich hab ich es gesehen. Es ist gestern schon gelaufen.«
Und so ging es immer weiter, bis Daves Gesicht knallrot angelaufen war, Megan dazwischenging und ihn wieder einmal daran erinnerte, dass Agnes nichts dafür konnte. Es war schwer zu verstehen. Krebs oder einen Herzinfarkt verstehen wir, aber Geisteskrankheiten sind schon fast per Definition für uns nicht richtig fassbar.
Seit etwa einem Monat hatte Agnes eine neue Wahnvorstellung – ein Mann drang in ihr Zimmer ein und bedrohte sie. Dave wollte es wieder einmal ignorieren. »Lass das Telefon klingeln«, sagte er mit einem überdrüssigen Seufzer. »Wir müssen sie in einen besser überwachten Bereich im Heim schicken.«
Aber das brachte Megan nicht übers Herz. Wenigstens noch nicht.
Agnes’ Krankheit würde sich verschlimmern, hatten die Ärzte sie gewarnt. Es wäre schon fast so weit, dass sie in die »zweite Etage« gehörte, in die die Patienten mit fortgeschrittener Demenz verlegt wurden. Bei Außenstehenden hinterließ das einen grausamen Eindruck, aber Dave hatte sich überzeugen lassen: Da es keine
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