Wer einmal lügt
im Dunkeln liegen und abwarten, dass er dich holen kommt.«
Megan sah sie nur an und dachte: Wow, wer wendet denn jetzt die Validationstherapie bei wem an?
»Du darfst nicht im Dunkeln liegen bleiben und warten«, flüsterte Agnes erregt. »Du darfst dich niemals hilflos fühlen. Bitte. Für mich. Ich möchte nicht, dass du das tust.«
»Okay, Agnes.«
»Versprochen?«
Megan nickte. »Ich versprech’s dir.«
Und sie meinte es ernst. Validationstherapie hin oder her, Agnes hatte eine universelle Wahrheit ausgesprochen: Es war schlimm, Angst zu haben, aber es war noch viel schlimmer, sich hilflos zu fühlen. Spätestens seit Lorraine bei ihr gewesen war, hatte Megan mit dem Gedanken an einen Befreiungsschlag gespielt. Womöglich würde ihre Vergangenheit sie dabei einholen und ihr Probleme bereiten, aber – wie Agnes es gesagt hatte – das war immer noch besser, als hilflos im Dunkeln zu liegen und abzuwarten.
»Danke, Agnes.«
Die alte Frau blinzelte, als müsste sie ihre Tränen zurückhalten. »Gehst du?«
»Ja. Aber ich komm wieder.«
Agnes breitete die Arme aus. »Kannst du noch ein kleines bisschen bei mir bleiben? Nicht lange. Ich weiß, dass du los musst. Aber ein paar Minuten werden dir doch nichts ausmachen, oder?«
Megan schüttelte den Kopf. »Das macht mir überhaupt nichts aus.«
SIEBEN
B roome hatte gerade erst angefangen, sich die Überwachungsvideos anzugucken, und schon einige Idioten mit Drinks, Perlenketten und Mädchen herausstolpern sehen, als Rudy vom La Crème ihn anrief.
»Carlton Flynn hatte ein Lieblingsmädchen«, sagte Rudy.
»Wen?«
»Tawny Allure.«
Broome rollte mit den Augen. »Ist das ihr echter Name?«
»So echt wie alles andere an ihr auch, wenn Sie verstehen, was ich meine«, sagte Rudy.
»Ja, Sie sind ein echter Feingeist. Wann ist sie im Club?«
»Jetzt.«
»Ich bin schon unterwegs.«
Broome wollte gerade den Bildschirm ausschalten, als Goldberg, sein Vorgesetzter und ein Schwachkopf biblischen Ausmaßes, sagte: »Was zum Teufel ist das?«
Goldberg beugte sich über ihn. Er roch nach Bier, Schweiß und Thunfisch.
»Eine Videoaufnahme aus dem La Crème aus der Nacht, als Flynn verschwunden ist.«
»Was wollen Sie damit?«
Broome wollte eigentlich nicht näher darauf eingehen, aber Goldberg würde sich nicht ohne Weiteres abspeisen lassen. Er trug ein beigefarbenes Hemd mit Button-down-Kragen, das vermutlich einst strahlendweiß das Licht der Welt erblickt hatte. Er knurrte beim Sprechen und versuchte so, seine Begriffsstutzigkeit mit Aggressivität zu übertünchen. Bisher hatte er damit Erfolg gehabt.
Broome stand auf. »Ich will feststellen, ob es eine Verbindung zwischen Stewart Green und Carlton Flynn gibt. Beide Männer sind am gleichen Tag verschwunden.«
Goldberg nickte scheinbar gedankenversunken. »Und wo wollen Sie jetzt hin?«
»Zurück ins La Crème . Flynn hatte eine Lieblingsstripperin.«
»Hmm.« Goldberg rieb sich das Kinn. »Fast wie Stewart Green.«
»Mal gucken.«
Broome zog den USB -Speicherstick aus dem Computer. Vielleicht könnte er Erin bitten, sich die Videos anzusehen. Sie hatte einen guten Blick für solche Sachen. Er konnte ihn auf dem Weg zum La Crème bei ihr vorbeibringen. Dann schob er sich an Goldberg vorbei. Als er um die Ecke bog, sah er sich kurz um, weil er fürchtete, Goldberg könnte ihm noch auf den Fersen sein. Das war er jedoch nicht. Stattdessen saß er gebeugt am Telefon und schirmte die Sprechmuschel mit der Hand ab – als ob das irgendetwas nützen würde.
Zwanzig Minuten später, nachdem er den USB -Stick bei Erin abgegeben hatte, saß Broome in der ruhigsten Nische des La Crème Tawny Allure gegenüber. Rudy stand mit verschränkten Armen hinter ihr. Tawny bestand nur aus Feindseligkeit, Implantaten und Daddy-hat-mich-nicht-genug-geliebt-Selbstgefälligkeits-Dünkel. An einem Ort wie diesem war das ein beliebtes Klischee – wenn auch eines, das in den meisten Fällen zutraf. Tawny war jung und – mit chirurgischer Unterstützung – fantastisch gebaut, hatte aber ein etwas strenges Gesicht und Augen, die wohl schon zu oft gesehen hatten, wie Männer sich am helllichten Tage aus der Wohnung schlichen und sich anschließend eine neue Handynummer geben ließen.
»Erzählen Sie mir etwas über Carlton Flynn«, sagte Broome.
»Carlton?« Sie blinzelte mit ihren Wimpern, die so unecht aussahen, dass sie an unter sengender Sonne verendende Krebse erinnerten. »Oh, er war ein Schatz. Hat mich immer gut
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