Wer einmal lügt
Arbeitslos. Die erste Vermisstenmeldung war am 4. März vor acht Jahren eingegangen.
»Und woher kennen Sie ihn?«
Achselzucken.
»Wie heißt er?«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn kenne. Ich habe gesagt, er kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich weiß nicht, wo oder wann ich ihn gesehen habe. Kann schon Jahre her sein.«
»Acht Jahre vielleicht?«
»Keine Ahnung. Möglich. Warum?«
»Zeigen Sie das Bild herum. Hören Sie sich um, ob jemand die Leute erkennt. Aber sagen Sie ihnen nicht, worum es geht.«
»Scheiße nochmal, ich hab doch überhaupt keine Ahnung, worum es geht.«
Broome hatte auch die anderen Fälle überprüft. Bisher – aber er stand erst ganz am Anfang – war Stewart Green der Einzige, bei dem auch eine Frau verschwunden war. Sie hatte hier unter dem Namen Cassie gearbeitet. Ihren richtigen Namen kannte niemand. Das FBI und die meisten Polizisten zogen sich zurück, sobald eine Stripperin ins Spiel kam. Die Gerüchte verbreiteten sich bis ins Umfeld der Greens. Kinder konnten gemein sein. Susie und Brandon hatten in der Schule einen schweren Stand gehabt, weil ihr Daddy mit einer Erotiktänzerin durchgebrannt war.
Nur ein Polizist – höchstwahrscheinlich ein sehr dummer Polizist – hatte es nicht geglaubt.
»Sonst noch was?«, fragte Rudy.
Broome schüttelte den Kopf, stand auf und ging zur Tür. Beim Aufstehen fiel sein Blick auf etwas, das ihn innehalten ließ.
»Was gibt’s?«, fragte Rudy.
Broome deutete nach oben. »Überwachungskameras?«
»Klar. Falls uns jemand verklagen will. Oder wie vor zwei Monaten, als jemand eine Rechnung über zwölf Riesen mit der Kreditkarte bezahlen wollte. Als seine Frau das sieht, behauptet er, jemand hätte ihm die Karte geklaut, ihn beschissen und solchen Scheiß. Sagt, er ist nie hier gewesen, und will sein Geld wiederhaben.«
Broome lächelte. »Und was dann?«
»Ich hab ihm ein Foto von einem doppelten Lapdance geschickt und dazugeschrieben, dass ich seiner Frau gern auch das komplette Video zukommen lassen kann. Dann hab ich vorgeschlagen, dass er noch ein ordentliches Trinkgeld drauflegt, weil die Mädels an dem Abend richtig hart gearbeitet haben.«
»Und nach welcher Zeit werden die alten Bänder wieder überspielt?«
»Überspielt? Leben wir im Jahr 2008? Das ist alles digital. Wir überspielen nichts mehr. Ich hab sämtliche Aufnahmen aus den letzten beiden Jahren hier auf der Festplatte.«
»Kann ich eine Kopie der Aufnahmen vom achtzehnten Februar kriegen? Von diesem und letztem Jahr?«
Ray fuhr zur FedEx-Filiale in Northfield. Er loggte sich in seinen Computer ein und druckte das Foto von Carlton Flynn in den Pine Barrens aus. Er wusste, dass man das Foto zu der Kamera zurückverfolgen konnte, mit der es gemacht worden war, wenn er einfach eine JPEG -Datei schickte. Also druckte er das Foto aus und machte eine Farbkopie von dem Ausdruck.
Er fasste alles nur am Rand an, um keine Fingerabdrücke darauf zu hinterlassen. Dann wischte er den Umschlag mit einem Schwamm ab, adressierte ihn mit einem einfachen blauen Bic-Kugelschreiber in Blockbuchstaben an das Atlantic City Police Department und fuhr zu einem Briefkasten in einer ruhigen Straße in Absecon.
Wieder hatte er das Blut vor Augen.
Er hatte überlegt, ob dieses Vorgehen zu riskant wäre, ob es tatsächlich auf ihn zurückfallen könnte. Aber er konnte es sich nicht vorstellen, und vielleicht war das jetzt, nach der langen Zeit, auch gar kein Problem mehr. Er hatte keine Wahl. Ganz egal, was da schließlich herauskam, welche Unannehmlichkeiten es ihm bereiten könnte – was hatte er schon zu verlieren?
Ray wollte nicht über die Antwort nachdenken. Er warf den Umschlag in den Briefkasten und fuhr weg.
SECHS
M egan bremste scharf, stellte den Motor aus und stieß die Fahrertür auf. Sie eilte durch die Lobby, vorbei am müden Nachtwächter, der sie mit einem Augenrollen begrüßte, und weiter in den zweiten Flur links.
Agnes’ Zimmer war das dritte auf der rechten Seite. Als Megan die Tür öffnete, hörte sie ein leises Keuchen vom Bett. Das Zimmer war stockfinster. Verdammt, wo war das Nachtlicht? Sie schaltete das Licht an, drehte sich zum Bett um, und dann brach ihr fast das Herz.
»Agnes?«
Die ältere Frau saß aufrecht im Bett und hatte die Decke bis unter die tellergroßen Augen gezogen wie ein kleines Kind, das sich einen unheimlichen Film ansah.
»Ich bin’s, Megan.«
»Megan?«
»Es ist alles in Ordnung. Ich bin bei dir.«
»Er war wieder
Weitere Kostenlose Bücher