Wer einmal lügt
Kabuff, das kleiner war als eine Gefängniszelle, bis sie – ja, bis wann eigentlich?
Schauder.
Also echt, dachte Tawny, dann sollen sie mich lieber gleich umbringen.
Wenn man es auf den Punkt brachte, standen ihr folgende Möglichkeiten offen: Sie konnte in einem engen, stickigen Kabuff stumpf irgendwelche Versicherungsdaten eintippen … oder sie konnte die ganze Nacht tanzen und bei einer Party Champagner trinken.
Echt schwierige Entscheidung, oder?
Aber ihr Job im La Crème entwickelte sich nicht so, wie sie es erwartet hatte. Sie hatte gehört, dass hier die Chancen deutlich besser waren, begehrenswerte Junggesellen kennenzulernen, als bei der Partneragentur Match.com, doch das Einzige, was entfernt einer Beziehung ähnelte, war diese Sache mit Carlton. Und was hatte der getan? Er hatte ihr den Finger gebrochen und Ralphie bedroht.
Manche Mädchen fanden tatsächlich einen reichen Mann, aber das waren meistens die hübschen, und wenn sie sich ganz genau im Spiegel ansah, wusste Tawny, dass sie nicht dazugehörte. Zu den Hübschen. Sie musste immer mehr Schminke aufspachteln. Die Ringe unter ihren Augen wurden immer dunkler. Auch ihre Brustoperation hatte sie korrigieren lassen müssen, und obwohl sie erst dreiundzwanzig war, hatte sie so viele Krampfadern, dass ihre Beine wie Reliefkarten aussahen.
Die kecke, junge Blondine im Rollkragenpulli winkte Tawny kurz zu. »Miss, haben Sie einen Moment Zeit für uns?«
Tawny war etwas eifersüchtig auf die kecke Blondine mit dem Zahnpasta-Reklame-Lächeln. Der niedliche Mann war vermutlich ihr Freund. Wahrscheinlich behandelte er sie gut, ging mit ihr ins Kino und spazierte Hand in Hand mit ihr durchs Einkaufszentrum. Glücklich. Natürlich waren sie christliche Fundamentalisten, aber sie sahen so glücklich und gesund aus, als wären sie in ihrem ganzen Leben noch nicht traurig gewesen. Tawny würde ihre mageren Lebensersparnisse darauf setzen, dass jeder Mensch, den die beiden je kennengelernt hatten, noch am Leben war. Ihre Eltern waren noch glücklich verheiratet und sahen genauso gesund aus wie die beiden, nur eben etwas älter, sie spielten Tennis und veranstalteten Grillabende und große Familiendinner, bei denen alle die Köpfe senkten und gemeinsam ein schönes Gebet sprachen.
Gleich würden sie ihr erzählen, dass sie die Antwort auf all ihre Probleme kannten, und, sorry, Tawny war einfach nicht in der richtigen Stimmung. Heute nicht. Ihr gebrochener Finger tat so verdammt weh. Ein Bulle hatte gerade gedroht, sie in den Knast zu stecken. Und ihr sadistischer, welpenhaft-psychotischer »Liebhaber« wurde vermisst und war vielleicht – so Gott wollte – tot.
Der niedliche, lächelnde Junge sagte: »Wir würden bloß gern kurz mit Ihnen reden.«
Tawny wollte sagen, dass sie sich verziehen sollten, aber irgendetwas bremste sie. Die beiden waren nicht die typischen jungen Christen, die sich gelegentlich vor dem Club einfanden und den Mädchen mit Bibelzitaten auf die Nerven gingen. Sie wirkten eher … na ja, vielleicht als kämen sie aus dem Mittelwesten. Extrem frisch gewaschen und helläugig. Vor ein paar Jahren war Tawnys Oma, sie ruhe in Frieden, auf einen betrügerischen Fernsehprediger von einem blöden Kabelsender abgefahren. Der hatte auch immer so eine Sendung namens Die erbauliche Musikstunde gehabt, in der Jugendliche mit Gitarren und Händeklatschen sanfte Lieder sangen. So sahen die beiden aus – als wären sie gerade dem Kirchenchor eines Kabelsenders entsprungen.
»Das dauert wirklich nicht lange«, versicherte ihr die kecke Blondine.
Da standen sie also, auf ihrer Türschwelle. Ausgerechnet heute. Nicht am Hinterausgang des Clubs. Sie krakeelten keine Slogans über die Sünde. Nach all der Gewalt, mit dem schmerzenden Finger und den müden Füßen, und wo sie so erschöpft war, dass sie kaum noch einen Schritt laufen konnte, waren die beiden Kids vielleicht nicht ohne Grund hier. Vielleicht waren sie tatsächlich in Tawnys dunkelster Stunde gesandt worden, um sie zu retten. Wie zwei himmlische Engel.
Wäre das möglich?
Eine einzelne Träne lief Tawnys Wange hinab. Das kecke, blonde Mädchen nickte, als verstünde sie ganz genau, was Tawny gerade durchmachte.
Vielleicht, dachte Tawny und zog ihren Schlüssel aus der Tasche, muss ich wirklich gerettet werden. Vielleicht waren diese beiden Kids, so unwahrscheinlich das auch klang, ihre Eintrittskarte in eine bessere Welt.
»Okay«, sagte Tawny und unterdrückte ein Schluchzen,
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