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Wer einmal lügt

Wer einmal lügt

Titel: Wer einmal lügt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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angefangen, der eine Frau suchte. Doch nach einer Weile hatte er mehr gewollt. So lief das immer. Alles war eine Einstiegsdroge zur nächsthöheren Stufe. Broomes Opa hatte es perfekt auf den Punkt gebracht. »Wenn man jederzeit Sex haben kann, will man bald einen zweiten Schwanz.«
    »Haben Sie sich zu einem weiteren Treffen verabredet?«
    »Ja, wir wollten uns an dem Abend treffen, an dem er dann, äh, verschwunden ist.«
    »Was ist passiert?«
    »Er hat angerufen und gesagt, dass er später kommt. Aber er ist nicht gekommen.«
    »Hat er irgendeinen Grund für die Verspätung genannt?«
    »Nein.«
    »Wissen Sie, wo er im Lauf des Tages war?«
    Tawny schüttelte den Kopf. Der schale Geruch von Haarspray und Reue wehte ihm in die Nase.
    »Können Sie mir sonst noch irgendetwas über den Tag sagen?«
    Weiteres Kopfschütteln.
    »Ich verstehe das nicht«, sagte Broome. »Dieser Kerl hat Ihnen immer wieder Verletzungen zugefügt, richtig?«
    »Ja.«
    »Dann ist es eskaliert.«
    »Hä?«
    Broome verkniff sich einen Seufzer. »Es wurde immer schlimmer.«
    »Oh. Ja, genau.«
    Broome breitete die Arme aus. »Wo hätte das Ihrer Ansicht nach enden sollen?«
    Tawny blinzelte, wandte den Blick ab, dachte einen Moment lang über die Frage nach. »So wie immer. Irgendwann hätte er genug von mir gehabt. Dann hätte er sich die Nächste gesucht.« Sie zuckte die Achseln. »Oder er hätte mich umgebracht.«

ACHT
    D ie Worte » RECHTSANWALTSKANZLEI Harry Sutton« waren ins mattierte Glas geätzt. Alte Schule.
    Als Megan vorsichtig an die Glasscheibe klopfte, antwortete Harry mit einem lauten: »Herein!«
    Sie drehte den Knauf. Ein paar Stunden zuvor hatte sie zu Hause angerufen und Dave gesagt, dass sie erst spät nach Hause kommen würde. Er wollte wissen, warum. Sie hatte gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, und aufgelegt. Jetzt war sie wieder zurück in Atlantic City, einem Ort, den sie viel zu gut kannte.
    Megan öffnete die Tür und wusste, dass sich dadurch wieder einmal alles verändern würde. Die Kanzlei bestand immer noch aus einem einzigen, schäbigen Zimmer – ziemlich armselig –, aber Harry hatte es auch nie anders gewollt.
    »Hey, Harry.«
    Harry war kein hübscher Mann. Würde man all seine Tränensäcke mit Gepäck füllen, würde das für eine dreiwöchige Kreuzfahrt reichen. Seine Nase war die Karikatur einer Knollennase, seine Haare ein hoch aufragendes weißes Büschel, das man allenfalls unter Androhung von Schüssen dazu bewegen könnte, sich hinzulegen. Sein Lächeln, tja, das war einfach herzerwärmend. Als sie es sah, fühlte sie sich wie zu Hause.
    »Es ist viel zu lange her, Cassie.«
    Manche Leute bezeichneten Harry als einen Straßenanwalt, aber das stimmte eigentlich nicht. Vor vier Jahrzehnten hatte Harry seinen Abschluss an der Stanford Law School gemacht und war als Partner bei der renommierten Rechtsanwaltskanzlei Kronberg, Reiter & Roseman eingestiegen. Eines Abends hatte ein wohlmeinender Kollege den ruhigen, scheuen Anwalt nach Atlantic City mitgeschleppt, um ihm das Spiel, die Mädchen und sonstige Ausschweifungen näherzubringen. Der scheue Harry hatte sich kopfüber ins pralle Leben gestürzt – und war geblieben. Er hatte bei der großen Anwaltskanzlei gekündigt, seinen Namen in exakt diese Bürotür ätzen lassen und beschlossen, die Underdogs der Stadt zu vertreten, zu denen, auf unterschiedlichste Art und Weise, praktisch alle gehörten, die sich hier versuchten.
    Nur sehr wenigen Menschen, denen man hier begegnete, schwebte ein Heiligenschein über dem Kopf. Sie waren weder schön noch engelsgleich und arbeiteten auch nicht für Wohltätigkeitsorganisationen – und Harry gab sich auch eindeutig lieber mit Sündern ab als mit Heiligen. Ihn selbst umgab jedoch eine Aura des Vertrauens und der Güte. Er war eine dieser Ausnahmen.
    »Hallo, Cassie«, sagte Harry.
    Seine Stimme klang steif. Er lehnte sich auf dem Stuhl nach hinten.
    »Wie geht’s dir, Harry?«
    Seine klaren, blauen Augen musterten sie mit einem seltsamen Ausdruck. Das war eigentlich nicht seine Art, andererseits hatte sie ihn seit beinah zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Menschen veränderten sich. Sie fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war hierherzukommen.
    »Gut, danke.«
    »Gut, danke?«
    Harry nickte und biss sich auf die Unterlippe.
    »Was ist los, Harry?«
    Plötzlich hatte er Tränen in den Augen.
    »Harry?«
    »Scheiße«, sagte er.
    »Was ist?«
    »Ich habe versprochen, dass ich mich zusammenreiße.

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