Wer einmal lügt
Manchmal bin ich einfach so ein Weichei.«
Sie sagte nichts und wartete.
»Es ist bloß … Ich dachte, du wärst tot.«
Sie lächelte erleichtert – ja, er war derselbe gefühlsduselige Mann, an den sie sich erinnerte. »Harry …«
Er winkte ab. »Die Cops waren hier, nachdem du mit diesem Kerl verschwunden bist.«
»Ich bin nicht mit dem Kerl verschwunden.«
»Dann bist du einfach allein verschwunden?«
»Gewissermaßen.«
»Na ja, die Cops wollten mit dir reden. Das wollen sie immer noch.«
»Ich weiß«, sagte Megan. »Deshalb bin ich zurückgekommen. Ich brauche deine Hilfe.«
Als Tawny Allure das lächelnde, junge Paar vor ihrer Haustür stehen sah, seufzte sie und schüttelte den Kopf.
Tawnys richtiger Name war Alice. Anfangs hatte sie ihn verwendet und war unter dem Künstlernamen »Alice im Wunderland« aufgetreten, aber ihr echter Vorname erleichterte es Leuten aus ihrem früheren Leben, sie wiederzuerkennen. Jetzt, nach der Arbeit, trug sie ein weites Sweatshirt, unter dem die Implantate nicht auffielen. Sie hatte ihre Stöckelschuhe gegen flache Tennisschuhe ausgetauscht, die spachteldicke Schminke abgeschrubbt und eine der riesigen Sonnenbrillen aufgesetzt, hinter denen sich normalerweise Prominente verbargen. Sie sah nicht aus, dachte sie, wie die Erotiktänzerin, die sie war.
Das lächelnde Paar wirkte, als käme es geradewegs aus einer Bibelstunde. Tawny runzelte die Stirn. Sie kannte den Typ. Weltverbesserer. Sie würden ihr Pamphlete geben und sie retten wollen. Dazu hatten sie dann ein paar kitschige Slogans parat wie: »Leg deinen Tanga ab und finde zu Jesus«, worauf sie antworten würde: »Gibt Jesus ordentlich Trinkgeld?«
Die lächelnde, blonde Frau war jung und auf gesunde Art hübsch. Sie hatte ihre Haare wie ein Cheerleader zu einem hüpfenden Pferdeschwanz zusammengebunden, trug einen Rollkragenpullover und einen Rock, den sie im Club gut für eine Schülerin-Fantasienummer hätten verwenden können, und dazu kurze Söckchen. Dass es so etwas im wahren Leben überhaupt gab.
Der niedliche Kerl neben ihr hatte wellige Haare wie ein Politiker auf einem Segelboot. Er trug Khakis, ein blaues Hemd mit Button-down-Kragen und hatte sich einen Pullover um die Schultern gehängt.
Tawny war nicht in Stimmung für so eine Unterhaltung. Ihr Finger schmerzte. Sie fühlte sich schwach, erschlagen und hilflos. Sie wollte in ihre Wohnung gehen und Ralphie füttern. Ihre Gedanken kreisten immer noch um den Besuch von diesem Bullen – Broome – und natürlich um den vermissten Carlton Flynn. Als sie Carlton kennenlernte, hatte der ein T-Shirt mit der Aufschrift: »Ich bin zwar kein Gynäkologe, aber ich kann trotzdem gern mal gucken« getragen. Also praktisch ein unübersehbares »Lass die Finger von mir«-Schild. Doch die alberne Tawny hatte angefangen zu kichern, als sie es las. Ziemlich erbärmlich, wenn sie jetzt darüber nachdachte. Tawny hatte ein paar ganz ordentliche Eigenschaften, doch wenn es um Männer ging, war ihr Arschloch-Detektor praktisch immer im Eimer.
Manchmal – meistens – hatte Tawny den Eindruck, dass das Pech ihr ohnehin immer ganz dicht auf den Fersen war. Gelegentlich holte es sie dann ein und tippte ihr auf die Schulter, damit sie auch bloß nicht vergaß, dass es ihr nie von der Seite weichen würde.
Das war nicht immer so gewesen. Am Anfang hatte sie ihren Job im La Crème geliebt. Es war abwechslungsreich und aufregend gewesen, und sie hatte jeden Abend als eine Party angesehen. Und nein, Tawny war als Kind nicht missbraucht worden oder so etwas; stattdessen besaß sie eine andere Eigenschaft, die man oft bei Menschen fand, die in dieser Branche arbeiteten: Tawny war, wie sie sich selbst eingestehen konnte, von Natur aus faul, und sie langweilte sich sehr schnell.
Die Leute sprachen oft darüber, dass die Mädchen in ihrer Branche gestört waren oder dass es ihnen an Selbstachtung mangelte, und, ja, irgendwie war da sicher etwas dran. Aber das Entscheidende war, dass die meisten Mädchen einfach keine Lust auf einen echten Job hatten. Wer hatte das schon? Welche echten Alternativen gab es denn zu ihrem aktuellen Job? Tawnys Schwester zum Beispiel hatte vor sechs Jahren ihren Highschool-Abschluss gemacht. Seitdem arbeitete sie in der Datenerfassung bei der First Trenton Insurance. Sie saß in einem kleinen, stickigen Kabuff vor einem Computer-Monitor und tippte irgendwelche Daten ein. Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr steckte sie in diesem
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