Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Silvey
Vom Netzwerk:
«Ihr beide seid nicht mehr ganz richtig im Kopf. Und jetzt sagt mir eure Punkte.»
    Wir nennen ihr die Zahlen. Ich weiß, dass mein Vater seine einfach erfunden hat, und lächle verschwörerisch. Wenn meine Mutter schreibt, schiebt sie die Zunge in den Mundwinkel, was sie mädchenhaft wirken lässt. Sie pfeift, als sie das Ergebnis auf dem Block sieht.
    «Ihr sitzt in einem Zug ohne Bremsen, meine Herren.»
    «Komm, Charlie», sagt Dad. «Kein Pardon für den rasenden Wagon. Es ist noch nicht vorbei. Dem Glücksexpress da drüben muss Einhalt geboten werden.»
    «Glück?», ruft meine Mutter. «Das ist Können. Sei nicht so hoffärtig.»
    «Hoffärtig?»
    «Ja, hoffärtig.»
    Wir lächeln alle drei, was irgendwie ganz schön ist. Es ist offensichtlich, dass wir versuchen, uns gegenseitig aufzubauen. Ich frage mich, ob sie drüben bei Jeffrey auch Canasta spielen. Wahrscheinlich nicht. Ich hoffe, er kommt klar. Am liebsten würde ich an sein Fenster klopfen wie Jasper Jones.
    Meine Mutter wirft den Kopf zurück und beißt sich auf die Lippe.
    «Meine Herren, ich habe niederschmetternde Neuigkeiten.» Grinsend macht sie sich daran, ihre Karten sauber geordnet abzulegen. Mein Vater und ich lehnen uns stöhnend zurück.
    «Jetzt schon? Du bist so unbarmherzig wie ein Sack hungriger Schlangen.»
    «Rechnet zusammen», sagt sie und greift nach dem Block.
    «Ich glaube nicht, dass das nötig ist.» Dad wirft seine Karten auf den Tisch. «Das war’s, Charlie. Es ist Zeit aufzugeben. Sie hat uns bis aufs Hemd ausgezogen. Begib dich zur Ruh.»
    Ich stehe auf. Im gleichen Moment hören wir plötzlich ein Rattern wie von Gewehrschüssen oben auf dem Dach. Wir zucken zusammen und heben die Köpfe. Es regnet. Zuerst langsam, dann setzt ein wahres Trommelfeuer ein. Es gießt in dicken, silber glänzenden Strömen. Ich sehe sie durch das Küchenfenster. Sie lassen uns für eine Weile verstummen.
    «Teufel auch», sagt mein Vater. «Das schüttet vielleicht.»
    Meine Mutter löst die Fensterriegel, um die kühle Luft hereinzulassen. Das Dröhnen des Regens wird lauter, und ein weißer Blitz zuckt auf.
    Kurz darauf donnert es, und meine Mutter fährt zusammen. Sie packt die Stuhllehne meines Vaters.
    «Gütiger Himmel», sagt sie. «Das war’s! Mir reicht es. Ich gehe ins Bett. Gute Nacht, Charlie.»
    Mein Vater räumt den Tisch ab, und ich stehe auf und schiebe meinen Stuhl zurecht.
    «Alles klar?», fragt er und hält inne.
    Ich nicke, doch das stimmt nicht. Ganz und gar nicht.
    Ich verstehe nicht, wie meine Eltern es fertigbringen, zu dem, was gerade passiert ist, so einfach Abstand zu gewinnen. Wie sie ihrer Empörung einfach einen Deckel überstülpen können. Immer wieder sehe ich An Lu vor mir, wie er, von seiner Frau auf den Beinen gehalten, um sein Gleichgewicht und seine Würde ringt. Und Jeffrey. Er sah heute zum ersten Mal im Leben wirklich besiegt aus, und das ausgerechnet an dem Tag, an dem er zum ersten Mal
gewonnen
hat. Ich weiß nicht. Vielleicht stimmt etwas nicht mit mir. Das muss es sein. Denn ich habe das Gefühl, dass mir etwas das Herz abdrückt und ich keine Luft mehr kriege. Ich will mich nur noch hinlegen und daran denken, wie weich und warm sich Eliza Wishart heute angefühlt hat, und selbst das wird überlagert von ihrem weinenden Gesicht, ihren feuchten Grübchen und den Fältchen um ihre Augen. Sie sei kein guter Mensch, hat sie zu mir gesagt, und ich habe ihr nicht widersprochen. Weil ich ein Idiot bin. Nichts von dem, was ich ihr schon immer hatte sagen wollen, habe ich ausgesprochen, nicht eines der zahllosen Worte, die ich übungshalber aufgeschrieben habe. Ich habe einfach den Mund gehalten. Mich nicht für sie eingesetzt. Mein Vater dagegen hat mich heute Abend eines Besseren belehrt.
Er
hat sich für etwas eingesetzt. Und wie! Ich war so beeindruckt, so sprachlos darüber, dass er sich mit solcher Aggressivität ins Zeug gelegt hat. Doch nicht einmal das kann ich ungeprüft hinnehmen. Ein räudiger Hund hat seine Zähne in meinem T-Shirt vergraben und reißt und zieht mich nach unten mit dem hartnäckigen Gedanken, dass es nicht
genug
war, dass es nie genug sein wird.
    Weil Jeffrey Lu heute ein Held war und sie ihn in dem Moment, als er ganz oben ankam, auf den Boden zurückgezerrt haben. Weil sie einen Kübel Scheiße über ihm ausgeleert und ihn dazu gebracht haben, sich wie Dreck zu fühlen, dabei sollte er über den Wolken schweben.
    Weil diese Männer seinen Vater geschlagen haben, immer

Weitere Kostenlose Bücher