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Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Silvey
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gutes Geschirr weg, hängte seinen Anzug auf den Bügel und zog ihn nie wieder an. Weder sein Bein noch der Rest von ihm heilte jemals aus.
    Er hielt seine eigene Trauerfeier für Rosie Jones ab. Als man das zertrümmerte Wrack des Hillmans auf sein Grundstück zurückschleppte, machte er seinem Herzen dort Luft, auf der Beifahrerseite des Wagens. Er weinte und betete, dann kniete er im Regen und ritzte mit der Kante eines Pennys jenes Wort ins Metall, das länger Bestand haben sollte, als er auf dieser Erde Zeit haben würde, um es immer wieder zu sagen.
    Natürlich kannte Corrigan keine Gnade. Gerüchte machten die Runde über die Umstände, unter denen Jack Lionel mit Rosie Jones aus der Stadt gerast war. Einige meinten, er habe sie entführt. Er sei in die Frau seines Sohnes vernarrt gewesen und habe sie geraubt. Als sie sich im Auto gegen ihn wehrte, habe das Gerangel zu dem Unfall geführt. Andere beteuerten, sie hätten ihre Flucht gemeinsam geplant und ihre lüsternen Fummeleien hätten dazu geführt, dass sie von der Straße abkamen. Und dann gab es jene, die behaupteten, er habe sie in den Wagen gelockt, sich selbst angeschnallt und das Auto dann absichtlich von der Straße gelenkt, um ihren Tod wie einen Unfall aussehen zu lassen. Es gab zahllose rivalisierende Geschichten, unbestätigte Quellen, Erlebnisberichte und Aussagen von Nachbarn. Und sie verwoben sich so heillos, dass es schien, als wollten sie die eigentliche Wahrheit ersticken oder verzerren. Niemand sprach je von Rosies geplatztem Blinddarm. Er schien zu einer anderen Geschichte zu gehören. Der Berg an Lügen und Vermutungen wuchs immer weiter an. Geschichten wurden zu Wahrheit. Und die Wahrheit verwandelte sich in Stein. Das Bild von Jack Lionel wurde befleckt und mit Dreck beschmiert, und er machte keine Anstalten, es reinzuwaschen. So wurde er zu dem Monster und Mörder, für den ihn alle hielten. Ein niederträchtiger Mensch, ein Irrer. Ein Ausgestoßener. Die Stadt kehrte ihm den Rücken zu. Die Kirche interessierte sich nicht länger für seine Seele. Und Jack Lionel, der die Einsamkeit seines Grundstücks immer genossen hatte, zog sich einfach noch mehr zurück. Er wandte sich von Corrigan ab, kaufte seine Lebensmittel und Vorräte in anderen Orten. Er lebte bescheiden von seiner Kriegsrente, baute Gemüse an und hielt Schafe und Rinder, bis sein Bein nicht mehr mitmachte. In den letzten Jahren hatte er sich von Konserven, Eiern und Tee aus Blechbechern ernährt. Die einzigen Menschen aus Corrigan, die er überhaupt zu Gesicht bekam, waren die wenigen Kinder, die sich trauten, seine Pfirsiche zu stehlen, und sein Enkelsohn, der seit Jahren an seinem Grundstück vorüberging und ihm damit das Herz brach.
    Jack Lionel hatte immer angenommen, Jasper würde ihn absichtlich ignorieren, um ihn mit Missachtung zu strafen. Als zorniges, bewusstes Zeichen seiner Verachtung. Nicht einen Moment lang kam ihm in den Sinn, Jasper könnte die Wahrheit gar nicht kennen.
    Er ging davon aus, dass man Jasper Jones mit den Lügen vergiftet hatte. Gesät von seinem Vater und genährt von der Stadt. Deshalb wünschte Lionel sich so verzweifelt, Jasper ins Haus zu holen, ihm die Wahrheit zu erzählen und das Wort in die Luft zu kratzen. Doch Jasper hielt niemals an, er blieb kein einziges Mal stehen, um zuzuhören. Und Lionel, der zu gehandikapt war, um zu ihm hinauszueilen und ihm die Sache verständlich zu machen, war gezwungen, Jasper von der Veranda aus hinterherzurufen, wann immer er vorbeikam.
    Unterdessen hatte Jasper nicht die geringste Ahnung, warum Lionel seinen Namen rief. Da er es gewohnt war, als Zielscheibe zu dienen, achtete er nicht weiter darauf. Lionel war für ihn einfach ein verrückter alter Kerl, der nichts zu sagen hatte. Dennoch frage ich mich, wie es kommt, dass Jasper nie etwas davon erfahren hat. Mir leuchtet ein, dass sein Vater den alten Herrn nie erwähnt hat, aber stand Jasper tatsächlich so weit am Rande der Gesellschaft, dass niemand, nicht einmal die gefühllosesten Kinder, jemals herausposaunten, was sie wussten?
    Möglicherweise hatten auch sie keine Ahnung. Ich jedenfalls wusste von nichts. Vielleicht ging es allen so wie mir? Alle hatten Angst vor dem Mythos Mad Jack Lionel, ohne die wahre Natur der Lügen zu kennen, aus denen er sich speiste. Während ich dort in seinem Wohnzimmer stand und zusah, wie er rauchte und seine schreckliche Geschichte erzählte, kam es mir seltsam vor, dass ich mich jemals vor ihm

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