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Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Silvey
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Nachdem er ein geschlagenes Jahr lang freundliche Einladungen erhalten hatte, gab er schließlich nach. Stumm und zögerlich, mit dem Hut in der Hand, tauchte er bei den beiden auf. David stürmte an ihm vorbei und ging in den Pub. Aber Lionel blieb. Er und Rosie setzten sich hin und aßen.
    Jack Lionel stellte fest, dass er sich gründlich in ihr getäuscht hatte. Sie war freundlich, offenherzig und wunderschön, und sie kochte genauso gut wie seine Frau früher. Er begann, sie jeden Sonntag zu besuchen und immer mehr Zeit mit Jasper und Rosie zu verbringen. David verzog sich in die Bar des Sovereign und blieb dort, bis sie schloss.
    Mit der Zeit freute sich Lionel so sehr auf die Besuche bei Rosie, dass sie zum Höhepunkt seiner Woche wurden. Er zog seine besten Sachen an, pflegte sich und kämmte sich die Haare. Und auch Rosie begann aufwendiger zu kochen und ihre Sonntagskleider anzuziehen. Lionel erzählte, er habe Jaspers Mutter wie eine Tochter geliebt. Sie seien richtig gute Freunde geworden. Es blieb nicht bei den Sonntagen. Rosie kam häufig mit etwas Selbstgebackenem zum Tee zu Jack, der das gute Geschirr hervorholte und damit den Tisch deckte. David hielt sich natürlich fern. Rosie gab beiden gleichermaßen die Schuld daran, dass ihre Fehde weiterging; David, weil er zu starrköpfig war, um ihm die Hand zu reichen, und Jack, weil er zu stolz war, um sich zu entschuldigen.
    An einem für die Jahreszeit ungewöhnlich kalten Aprilsonntag griff Rosie Jones sich keuchend an die Seite. Sie beharrte darauf, dass alles in Ordnung sei, doch als sie sich nicht mehr auf den Beinen halten und kaum noch atmen konnte, verfrachtete Lionel sie in den Hillman und fuhr in Richtung Küste. Als sie im Wagen zu schreien begann, fürchtete er das Schlimmste. Rosie blickte wild um sich und schnappte nach Luft, als ob ihre Lunge undicht sei. Lionel raste den Hügel hinab und starrte blinzelnd in das grelle Licht der untergehenden Sonne. Rosie hatte sich kerzengerade aufgerichtet und warf sich auf dem Sitz vor und zurück, als säße sie in einem Schaukelstuhl. Sie umklammerte seine Hand so fest, dass er nicht das Herz hatte, sie wegzuziehen.
    Hätte er es getan, hätte er jenen Funken gesunden Menschenverstandes aufgebracht und das Lenkrad mit beiden Händen festgehalten, wäre er vielleicht besser mit dem Ruck fertiggeworden, mit dem der Wagen durch ein vom grellen Sonnenlicht verborgenes Schlagloch fuhr. So aber trat Jack Lionel auf die Bremse und übersteuerte den Wagen beim Gegenlenken auf der Schotterstraße. Sie rutschten auf eine Wand aus Bäumen zu. Und mehr brauchte es nicht. Nur einen Reifen, der auf ein Loch im Boden trifft. Einen einzigen Augenblick. Einen unglücklichen Moment im grellen Sonnenlicht. Und alles wurde schwarz.
    Als Lionel zu sich kam, war er von Blut und Glassplittern bedeckt und im Wagen eingeklemmt. Der Beifahrersitz war leer. Es herrschte eine undurchdringliche, widerwärtige Stille, die nur von Insekten durchbrochen wurde. Die Windschutzscheibe war verschwunden. Ehe er das Bewusstsein wieder verlor, gewahrte er in einigen Metern Entfernung Rosies Kleid, und der Schrecken über das, was er getan hatte, war so groß, dass er die Dunkelheit, die hinter seinen Augen heraufzog, begrüßte.
    Ihr Blinddarm hatte kurz vorm Durchbruch gestanden. Daher hatte Lionel recht getan, sie so schnell wie möglich zum Arzt bringen zu wollen. Trotzdem vergab er sich nie. Er wünschte, an Rosies Stelle gestorben zu sein. Und das tat auch David, der seinem Vater die Schuld an allem gab und ihm wesentlich üblere Absichten unterstellte als eine eilige Fahrt ins Krankenhaus. Die letzten Worte, die David jemals an seinen Vater richtete, fielen in jener Nacht an dessen Krankenbett in der Notaufnahme. Sollte Lionel bei Rosies Beerdigung erscheinen, würde David ihn an Ort und Stelle umbringen. Gott sei sein Zeuge. Und Jack Lionel nahm ihn beim Wort.
    Der Unfall hatte Jacks Bein zerschmettert, das schmerzhaft nach innen gekrümmt blieb und nicht mehr zu gebrauchen war. Doch Rosies Tod zog seinen ganzen Körper in Mitleidenschaft und drückte ihn nieder wie ein Kettenpanzer. Er hatte sie in der kurzen Zeit lieben gelernt, und zu seinen bedrückenden Schuldgefühlen kam hinzu, dass sie ihm schlicht und einfach als Freundin fehlte. Er vermisste ihr Essen, ihr Lachen, ihren Geruch und die Art, wie sie aufrecht und würdevoll auf ihrem Stuhl saß und sich für alles interessierte, was er zu sagen hatte. Jack Lionel räumte sein

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