Wer hat Angst vor Jasper Jones?
gefürchtet hatte. Er sah so klein aus, so müde und elend, wie er dasaß und seine Zigaretten rollte. Ein anständiger, einfacher Mann, dem übel mitgespielt worden war.
Jaspers Gesicht vermochte ich nicht zu deuten. Ich beobachtete ihn vorsichtig, während er dastand und zuhörte. Er rieb sich die Haare, bewegte die Füße und schniefte. Er sah zu Boden, ballte und öffnete die Fäuste, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass er zuschlagen wollte. Ich merkte, dass er verstohlene Blicke auf die Fotografien warf, die auf dem Klavier standen. Ich hielt mich im Hintergrund und hörte aufmerksam zu.
Ich weiß nicht genau, warum, doch als Jasper Jones stillschweigend die Zigarette annahm, die Jack Lionel ihm anbot, sie sich zwischen die Lippen klemmte und dankbar daran zog, kam mir der Gedanke, dass er soeben die Hoffnung aufgegeben hatte, jemals herauszufinden, wer Laura Wishart umgebracht hatte. Das Spiel ist aus, dachte ich.
Doch dann erzählte uns Jack Lionel, was er in jener Nacht gesehen hatte.
Er erinnerte sich noch gut an den Abend, weil er am Tag danach an einem Virus erkrankt war, der ihn zwei Wochen lang ans Bett gefesselt hatte. Die Gestalt draußen war ihm aufgefallen, weil sie ein ungewöhnlicher Anblick gewesen war. Er wusste, wer regelmäßig an seinem Grundstück vorbeikam, er kannte die üblichen Abläufe. Das junge Mädchen, das er so oft in Begleitung von Jasper Jones gesehen hatte und von dem er jetzt wusste, dass es sich um Laura Wishart gehandelt hatte, war ihm aufgefallen, weil sie allein war. Lionel hatte am Fenster ausgeharrt, weil er annahm, dass Jasper nicht lange auf sich warten lassen würde. Vielleicht hatten sie sich gestritten, und sie war aufgebracht vorausgelaufen. Oder sie wollten sich irgendwo treffen. Doch Jasper kam nicht.
Ob er sicher sei, dass sie allein war, wollte Jasper wissen.
Lionel war sich sicher. Doch dann legte er stirnrunzelnd den Kopf schräg. Und er erzählte uns, dass er zwar Jasper nicht gesehen, er aber dennoch beobachtet hatte, wie Laura jemand folgte.
Ich sitze auf meinem Bett und habe die Ellbogen auf die Knie gestützt, als es leise an mein Fenster klopft. Seufzend schließe ich die Augen. Ich drehe mich nicht einmal um. Die Konfrontation musste kurz gewesen sein. Oder sein Vater war auf Zechtour. Jedenfalls bin ich mir nicht sicher, ob ich Jasper heute Abend überhaupt noch einmal sehen will, so traurig und müde, wie ich bin.
«Charlie!»
Die Stimme lässt mich herumfahren. Ich klappe die Lamellen hoch.
Eliza Wishart ist an mein Fenster gekommen.
Sie ist hier. Mitten in der Nacht. Sie ist es wirklich. Ich sage gar nichts, mache nur den Mund auf und wieder zu.
«Was hattest du mit Jasper Jones zu schaffen?», will sie wissen. Ich zögere, weiß keine Antwort. Sie muss mir zum Bahnhof gefolgt sein. Ich hätte mich umdrehen sollen. Ich frage mich, wie weit sie uns wohl nachgegangen ist.
«Och, eigentlich nichts. Er ist so was wie mein Freund, schätze ich.»
Die Art, wie Eliza den Kopf schräg legt, zeigt, dass sie die Lüge durchschaut.
«Warum bist du nicht zurückgekommen, wie du es gesagt hast? Du hast es
versprochen
, Charlie. Ich habe auf dich gewartet. Du hast gesagt, du kommst wieder!»
Ich habe nichts zu sagen. Ich kann ihr die Wahrheit nicht erzählen, und lügen will ich nicht mehr.
«Es tut mir leid», sage ich. «Wirklich.»
«Ich muss mit dir reden, Charlie.»
«Ich weiß.»
«Jetzt, meine ich. Kannst du rauskommen? Es ist wichtig.»
Ich kann. Ich bin ziemlich sicher, dass mein Vater mich nicht zurückkommen gehört hat. Trotzdem zögere ich, weil ich Angst habe vor dem, was ich sagen oder was sie mich fragen könnte.
Und dann sagt Eliza etwas, das mich mehr erschüttert als alles, was ich seit jener ersten Nacht gehört habe. Sie schiebt die Finger durch die Lamellen und berührt meine Hand. Sie sagt: «Ich weiß, wo Laura ist, Charlie.»
Wie betäubt schlüpfe ich aus dem Haus und trotte neben ihr her, während mir ein Wirrwarr von Gedanken durch den Kopf jagt. Ich marschiere geradewegs in den Abgrund. Ich habe nichts von dem erwähnt, was ich weiß, für den Fall, dass sie mich woandershin führt. Ob sie mich zu Jaspers Lichtung bringt? So muss es sein. Doch wie groß ist das Puzzlestück, das sie in den Händen hält?
Wenn sie irgendetwas über die Lichtung, den Baum und das Seil weiß, muss sie in jener Nacht dort gewesen sein. Irgendetwas darüber, was geschehen ist, muss sie wissen, oder wenigstens, wie es ausgegangen
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