Wer hat Angst vor Jasper Jones?
heute Nacht vor Aufregung kein Auge zumacht. Und ich frage mich, ob Doug Walters wohl ebenso angespannt und nervös ist wie ich im Moment. Ob er heute Nacht schlafen kann. Ob er jemals einen Toten gesehen hat.
Als er sich dem Ast nähert, wird Jasper langsamer. Zentimeterweise schiebt er sich höher. Er hat recht: Es sieht wirklich nach einer schwierigen Kletterpartie aus. Dafür muss man stark und geschickt sein.
Während ich die Anstrengung und Anspannung in Jaspers Armen und Beinen registriere, frage ich mich, wie Jack Lionel das fertig gebracht haben soll. Es scheint mir ein unmögliches Unterfangen zu sein. Ich würde nicht einmal in die Nähe des Asts oder auch nur des Knotens kommen, wie sollte es dann einem alten Mann gelingen? Doch das frage ich Jasper nicht. Ich stehe hier und warte.
Als er den angewinkelten Ellbogen des Asts erreicht, zieht sich Jasper mit einer Körperdrehung hoch, wobei er die Beine mit einem Gottvertrauen hängen lässt, das ich niemals zustande brächte. Er wirkt völlig furchtlos. Erfahren und routiniert wie ein Zirkusartist. Er schwingt sich hinüber, stemmt sich hoch und setzt sich rittlings auf den Ast. Dann rutscht er schnell zu der Stelle, an der das Seil an den Ast geknotet ist.
Mein Herz hämmert. Plötzlich bin ich deutlich weniger entrückt und entsetzlich unruhig, als er zum Messer greift. Ich bin müde und überreizt. Verängstigt und betäubt. Wahrscheinlich fühle ich alles gleichzeitig, jeder Nerv vibriert. Ich denke nicht mehr an Jeffrey und auch nicht an die Wisharts. Mein Kopf besteht nur noch aus meinem trommelnden Pulsschlag, während ich zusehe, wie Jasper vorsichtig den Strang durchtrennt, an dem Laura hängt. Ich kann meinen Atem hören. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, doch ich kann sie nicht öffnen.
Sie fällt ganz plötzlich. Und schnell. Wie ein weißer Drachen, der sich in den Boden bohrt, während der Schwanz gemächlich nachfolgt. Sie fällt in sich zusammen. Wie eine Puppe. Wie ein Sack nasser Knochen. Mit einem dumpfen, schrecklichen Laut schlägt sie auf dem Boden auf. Einem Laut, der mich daran erinnert, dass sie nur noch loses Fleisch ist. Vielleicht sollte ich es nicht sein, aber ich bin trotzdem geschockt von ihrer Leblosigkeit. Sie sieht so schwer aus. So hilflos. Mein Körper prickelt. Als würden überall Ameisen herumkrabbeln. Jasper wirft das Messer herunter. Seine Spitze bohrt sich mühelos in den Boden. Dann lässt er sich den Stamm heruntergleiten.
Unten angekommen, geht er gebeugt und ganz vorsichtig auf sie zu. Ich habe mich nicht von der Stelle gerührt. Ich hoffe, er erwartet nicht, dass ich das Gleiche tue.
Jasper kniet sich hin. Zärtlich streckt er Lauras Arme und Beine aus und legt sie zurecht. Als würde sie nur tief und fest schlafen und er sich Mühe geben, sie nicht zu wecken. Ich meine zu sehen, wie er ihr mit dem Handrücken über die Wange streicht, aber ich bin mir nicht sicher. Seine Bewegungen sind langsam und bedacht. Voller Respekt. Mir ist unbehaglich zumute, als wäre ich Zeuge von etwas, das ganz und gar privat ist. Als hätte ich mich zu Jaspers Schlafzimmerfenster geschlichen und beobachtete drinnen eine intime Szene. Ich sollte den Kopf abwenden und fortsehen, sollte nicht daran teilhaben. Doch mein Blick wird auf unheimliche Weise festgehalten. Behutsam löst Jasper die Schlinge um Lauras Hals. Mir wird heiß vom Zusehen. Ich lausche. Ich glaube, Jasper verliert langsam die Geduld. Er zerrt an der Schlinge, doch der Knoten gibt nicht nach.
Plötzlich setzen sich meine Füße in Gang. Ich weiß selbst nicht, wie. Und dann knie ich mich vorsichtig neben ihn.
Jasper schaut flüchtig auf.
«He, Charlie», sagt er, als sei ich nur auf einen Sprung vorbeigekommen.
Ich antworte nicht. Bin wie gelähmt. Und entsetzt. Von der Farbe ihres Gesichts, der Schwellung und ihrem starren Blick. Mir ist übel. Ihr rechtes Auge ist dunkel und geschwollen. Sie hat eine kleine Schnittwunde auf der Wange und eine weitere auf der Augenbraue. Es stimmt. Man hat sie geschlagen. Brutal geschlagen. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich zittere, als ich meine Brille zurückschiebe.
«Ich will nicht, dass sie das um den Hals hat», murmelt Jasper mit gesenktem Kopf. «Aber ich krieg den Knoten nicht auf. Es ist nicht mal eine richtige Schlinge. Schau mal. Bloß ein einfacher Knoten. Damit es so aussieht, als ob. Vielleicht hat man sie wirklich erst hinterher aufgehängt. Vielleicht ist sie schon vorher gestorben. Ich muss ihn
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