Wer hat Angst vor Jasper Jones?
hat. Wer weiß, vielleicht können wir die Sache immer noch geradebiegen, wenn alles vorbei ist und sie Mad Jack weggesperrt haben. Wir wissen schließlich, wo sie ist, nicht?»
Ich glaube ihm kein Wort, werde immer tiefer hinabgezogen. Ich schaue zu Laura Wisharts baumelndem Körper und werde abermals von Angst und Übelkeit übermannt. Sie ist ein Geist. Sie ist nicht echt. Und dieser Ort ist es auch nicht.
«Ich weiß nicht, Jasper. Was ist, wenn es nicht klappt? Wenn wir
nie
etwas herausfinden und die Wisharts nicht mal ansatzweise die Wahrheit erfahren? Was ist, wenn du dich irrst und wir uns täuschen, was Corrigan angeht und Mad Jack? Und überhaupt?»
Plötzlich springt Jasper auf, schüttelt den Kopf und baut sich vor mir auf. Er schlägt mit der Hand durch die Luft, als wolle er ein vorbeifliegendes Insekt einfangen.
«Was ist dir lieber, Kumpel? Dass ich für nichts und wieder nichts ins Gefängnis gehe, bloß damit die Wisharts anständig Abschied nehmen können? Glaubst du, ich hab das alles geplant? Ich versuch doch bloß das Richtige zu tun, ohne dass ich auch noch aufgeknüpft werde!» Er deutet auf Laura und heftet seine wilden Augen auf mich. «Denn genau das wird passieren, verdammt noch mal! Und das weißt du. Ich schwöre dir noch mal, bei meiner Mutter, dass ich nichts davon gewusst hab! Ich bin heute Nacht hergekommen und hab sie gefunden, und ich hab keine Ahnung, was ich tun soll, außer meinen eigenen Arsch zu retten und dann vielleicht zu versuchen, allem auf den Grund zu gehen. Und dafür brauch ich deine Hilfe. Weil du was auf dem Kasten hast und nicht so bist wie die andern. Ich war mir sicher, dass du das verstehst. Scheiße noch mal, Charlie, ich hab so viel riskiert, als ich zu dir gekommen bin!»
Ich schlage die Augen nieder und schweige.
«Dir zu vertrauen ist eine Riesensache für mich, Charlie. Es ist gefährlich. Und jetzt bitte ich dich um das Gleiche. Ich kann dich nicht zu irgendwas zwingen. Aber ich hab gehofft, dass du die Dinge von meiner Warte aus sehen kannst. Das machst du doch, wenn du liest, nicht? Du siehst die Dinge mit den Augen von andern Leuten.»
Ich nicke.
«Also, Charlie, dann denk mal über den Ort hier nach und darüber, was das für mich bedeutet. Überleg dir, was ich tun soll und was das Richtige ist.»
Ich spüre eine grimmige Resignation. Wie konnte das Leben außerhalb dieses stillen, abgekapselten Fleckchens Erde nur so kompliziert sein? Laura Wishart, ihr leblos dahängender Körper, sollte nicht unsere Verantwortung, nicht unser grässliches Problem sein, das es zu lösen galt. Wir sollten es an die richtigen Leute weitergeben und wie verängstigte Kinder davonlaufen, atemlos mit dem Finger zeigen und uns an einem sicheren Ort verkriechen können. Nicht wir sollten die Wahrheit herausfinden müssen. Laura Wishart wurde erhängt, und Jasper Jones ist in ernsthaften Schwierigkeiten. Und ich stecke irgendwie mittendrin.
Jasper beruhigt sich. Er geht in die Hocke und wühlt in seinen Haaren.
«Nur dass du’s weißt, Charlie. Dir wird nichts passieren, wenn du bleibst und mir hilfst. Gar nichts. Das ist mein Ernst. Wenn irgendwas passiert, tue ich alles, was nötig ist, um dich da rauszuhalten, ja? Darüber musst du dir keine Gedanken machen. Das versprech ich dir.»
Ich nicke wieder.
«Du musst dir ein Herz nehmen, Charlie. Das ist alles. Ich weiß, dass du verstehst, was ich gesagt hab und warum ich so in der Klemme stecke. Ich musste auch schon früh tapfer sein. Schon so lange, wie ich denken kann. Bei mir ist immer alles schnell gegangen, Charlie. Manchmal fühl ich mich
uralt
. Kannst du das verstehen?»
«Ja, das kann ich», sage ich.
«Hier haben alle vor irgendwas Schiss, weißt du. So ist das nun mal in diesem kleinen Kaff. Dabei ist ihnen das nicht mal klar. Sie halten sich an das, was sie kennen und was ihnen gesagt wurde. Sie kapieren nicht, dass es eine Wahl ist, die man trifft.»
Ich hebe den Kopf und sehe Jasper in die Augen.
«Ich weiß, dass die Leute schon immer Angst vor mir gehabt haben. Vor allem die Kinder, aber auch alte Leute. Sie sind alle auf der Hut. Für sie bin ich fast noch ’n Tier, mit nur halb so viel Rechten. Ein Taugenichts. Und ich hab mich immer gefragt,
warum
? Sie kennen mich doch gar nicht. Niemand kennt mich. Das hab ich nie kapiert. Aber dann ist mir klargeworden, dass genau das der Grund ist. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist dumm, Charlie. Aber es bedeutet, dass ich sie nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher