Wer hat Angst vor Jasper Jones?
durchschneiden, Charlie. Aber ich muss aufpassen.»
Ich nicke.
Jasper steht auf, um das Messer zu holen, und ich wünsche ihn auf der Stelle zurück.
Er durchtrennt das Seil mit der Behutsamkeit eines Chirurgen, als könnte er ihr dabei weh tun. Alles, was ich höre, sind seine sachten Schnitte. Ratsch, ratsch, ratsch. Schließlich springt der Knoten auf. Ich zucke ein wenig zusammen. Es fühlt sich an, als hätten wir etwas Sinnvolles vollbracht. Jasper nimmt ihr langsam das Seil ab, als entferne er eine wertvolle Halskette.
Ich glaube, keiner von uns ist auf die dunklen Kerben gefasst, die sich ihr in den Hals gegraben haben. Ich spüre, wie es mich überläuft. Meine Hände werden taub. Wir atmen beide scharf ein und nicht wieder aus. Jasper gibt ein Geräusch von sich, als sei ihm etwas im Hals stecken geblieben. Er presst die Kiefer aufeinander.
Flüchtig untersucht er Lauras Körper. Berührt die schmalen Kratzer auf ihren Wangenknochen und ihrer Schulter. Streicht mit den Fingern über ihre glatten Alabasterarme. Es ist eine merkwürdige, stille Untersuchung. Ich hoffe nur, dass er das Gleiche nicht von mir erwartet. Er betrachtet ihre Beine, ihre Fesseln und ihre Füße. Legt die Stirn in Falten. Dann hebt er den Saum ihres Nachthemdes an. Ich zucke augenblicklich zurück, wende mich ab und starre zu Boden. Ich glaube, ich weiß, was er sich ansieht. Und ich weiß auch, wonach er sucht.
Als ich wieder aufschaue, ist Jasper fort. Verschwunden.
Natürlich drehe ich durch. Panisch sehe ich mich nach allen Seiten um. Wieder läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich kann ihn nirgends sehen, bin allein auf der Lichtung. Die Blätterwände ragen vor mir auf. Kommen auf mich zu. Ich mache mich klein, kauere mich zusammen. Die Augen weit aufgerissen. Ich strecke die Hand aus, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und berühre Laura an der Schulter. Sie ist warm, und ich schrecke zurück, als hätte ich etwas Heißes angefasst. Ich schreie auf vor Angst. Sie ist
warm
. Ich könnte schon wieder in Ohnmacht fallen, hier, direkt neben ihr. Der widerliche Nebel senkt sich abermals herab.
Mir ist schwindlig und schlecht. Es ist, als habe sich durch die Berührung mein Schicksal besiegelt. Ich bin Teil dieser Geschichte. Sie lässt sich nicht ignorieren. Sie ist real. Ich habe sie angefasst. Ich weiß um ihr letztes bisschen Wärme, ihre letzten zarten Ausdünstungen. Aus irgendeinem Grund zwinge ich mich, ihr Gesicht anzusehen, es genau zu betrachten. Ihre Miene ist seltsam. Irgendwie verwundert und überrascht, traurig und ängstlich, alles zugleich. Ich frage mich, ob das ihr Gesichtsausdruck war, als das Leben sie verließ. Erstarrt in der Zeit. Ob sie so empfunden hat. Wie ähnlich sie ihrer Schwester Eliza sieht. Ich stelle mir den Augenblick vor, in dem Eliza davon erfährt, und es zerreißt mich.
Auf der anderen Seite des Eukalyptusbaums höre ich ein gedämpftes Rascheln. Ich weiß nicht, ob ich mich fürchten oder erleichtert fühlen soll. Ich springe auf.
«Jasper!»
, zische ich.
Dann taucht er auf, mit einem ziemlich großen Granitblock in den Armen. Er legt ihn neben Lauras Oberschenkel ab. Wenn ich nicht wüsste, wozu dieser Stein gedacht ist, und nicht so fassungslos wäre über das, was wir vorhaben, würde ihn dafür anbrüllen, dass er mich hier allein gelassen hat.
Langsam schüttle ich den gesenkten Kopf. Ich bin komplett am Ende. Wirklich. Jasper hält einen Moment inne, und wir schauen uns an. Es gibt nichts mehr zu sagen.
Nach einer Weile kniet er sich hin. Er beugt sich vor und rollt den Stein neben Lauras Füße. Ich sehe zu, wie er das Seil straff um den Felsbrocken wickelt und das Ende verknotet. Er räuspert sich und hebt dann vorsichtig Lauras nackte Füße an. Sie sind klein, schmal und schmutzig. Mit dem anderen Ende des Seils bindet er behutsam ihre Fußgelenke zusammen. Es schmerzt ihn, das zu tun. Ich meine zu hören, wie er eine Entschuldigung murmelt.
Mit einem kräftigen Ruck zieht er die Knoten fest. Dabei heben Lauras Füße vom Boden ab, als würde er einem abgelenkten Kind die Schuhe binden. Anscheinend sind seine Handflächen feucht, denn er wischt sie immer wieder am Hemd ab. Es ist so stickig und schwül an diesem Ort. Die Luft ist heiß und drückend. Man kann kaum atmen.
Als er ihre Beine anhebt, verrutscht der Saum von Lauras Nachthemd, und Jasper hält inne, um ihn zurechtzuziehen, ihr das Hemd wieder dahin zu ziehen, wo es hingehört. Selbst jetzt,
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