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Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Silvey
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grenzenlos unbekümmert. Manchmal bekommt sie in der Schule Herzrasen und muss sich hinsetzen. Dann wird sie ganz still und blass und sagt allen, dass es ihr gutgeht, obwohl sie außer Atem ist und schwitzt. Ich würde dann am liebsten ihre Hand nehmen, ihren Puls entschleunigen und sie beruhigen.
    Ich frage mich, wie es kommt, dass sie heute nicht in Panik ist. Warum hämmert sie nicht an die Glastür der Polizeiwache, ruft den Namen ihrer Schwester in die Nebenstraßen, schlägt Töpfe aneinander und trommelt die Bewohner zusammen?
    Ich gebe meiner Brille einen Stups und zerre an meinem Ohrläppchen. Wir kommen näher. Wieder spüre ich den Drang, alles auszuposaunen. Die Krankheit herauszuschleudern. Ich weiß, dass es dumm klingt, aber am liebsten würde ich sie an der Hand nehmen und zum blätterübersäten Ufer des Corrigan River führen. An einen stillen, kühlen Ort. Um ihr zu erzählen, was ich gesehen und getan habe und was ich vermute. Ich will ihr versichern, dass Jasper Jones es nicht getan hat. Und sie bitten, nicht auf das Geschwätz der Leute zu hören. Ich will tief Luft holen und ihr erklären, dass ich ihn kenne. Dass er mein Freund ist und ich weiß, was er für ein Mensch ist. Dass er es nicht getan haben
kann
. Dass es keinen Sinn ergibt und ich glaube, dass er Laura geliebt hat. Außerdem will ich ihr sagen, dass ich mich schrecklich fühle. Ich will mich entschuldigen und ihr vom Gesicht ihrer Schwester erzählen. Dass sie, bevor wir sie gestern Nacht weggetragen haben, merkwürdig friedlich aussah. Ich möchte sie fragen, ob sie eine Ahnung hat, wer so etwas tun würde. Ob es einfach nur Pech war oder ob etwas Finstereres dahintersteckt. Ich will ihr in die Augen sehen, wenn ich ihr das erzähle. Ich will sie an mich drücken, wenn sie weint, und warten, bis sie sich beruhigt hat. Und ihr dann Dinge versprechen und genau das Richtige sagen.
    Ich beobachte Eliza beim Näherkommen. Vorsichtig, als könnte sie in die Luft fliegen. Jeffrey, der Blödmann, räuspert sich ständig und scharrt mit den Füßen, während wir auf sie zugehen. Am liebsten würde ich ihm links und rechts eine reinhauen und ihm dann die Melone eindrücken, bis sie platzt.
    Eliza schaut von ihrem Buch auf. Mein Körper scheint sich zu verknoten.
    «Guten Tag, Miss Eliza», säuselt Jeffrey und zieht eine unsichtbare Kappe. Dafür bringe ich ihn um.
    Elizas Augenbrauen springen leicht in die Höhe. Ihre Nase ist mit kaum sichtbaren Sommersprossen besprenkelt. Und ihre Lippen sind einfach perfekt. Rot und glänzend. Aber die Ähnlichkeit mit ihrer Schwester lässt mich nicht los. Sie hat die gleichen Augen und die gleichen dunklen Halbmonde darunter. Das versetzt mich in Panik. Meine Hände zittern noch mehr als bei unseren sonstigen Begegnungen.
    «Hallo, Jeffrey», erwidert sie vergnügt, dann sieht sie mich an. Sie legt den Kopf schief, verlagert ihr Gewicht auf ein Bein und sagt: «Hallo, Charlie.»
    Mein Mund ist wie ausgetrocknet, daher besteht meine Antwort aus einem tonlosen Flüstern, gefolgt von einem kurzen Nicken und einem knappen Lächeln. Ich bin ein Idiot. Ich überlege, ob ich es noch einmal versuchen soll, mit mehr Gefühl, doch bis ich mich zu einer Entscheidung durchgerungen habe, sind wir längst an ihr vorbeigegangen. Soll ich mich umdrehen? Ja, das sollte ich. Ich sollte mich wirklich umdrehen. Ich werde mich umdrehen.
    Doch ich tue es nicht. Ich schaue zu Boden. So viel zum Händchenhalten und mit ihr zum Flussufer gehen.
    Jeffrey grinst. Als wir außer Hörweite sind, sagt er: «Na, hebst du dir deine Worte für Scrabble auf?»
    «Leck mich.»
    Er wirft den Kopf zurück und lacht.
    «Du
liebst
sie, Chuck.»
    «Ich bring dich um, Jeffrey. Ehrlich. Irgendwann drehe ich dir den Hals um. Das verspreche ich dir. Du bist der nervigste Wicht, den es je gegeben hat.»
    Wir nähern uns dem Cricketfeld. Am liebsten würde ich umkehren und bei Eliza Wishart einen neuen Anlauf nehmen. Diesmal ohne Verlegenheit. Offen und direkt. Ich will ihr ins Gesicht blicken und schauen, ob ich irgendetwas Ungewöhnliches bemerke, ob irgendetwas fehlt, irgendetwas verdächtig ist. Ich will wissen, was sie liest. Vielleicht finden sich in ihren Büchern Antworten. Aber sie hat gut gerochen. Richtig gut. Besser als gut. Das tut sie immer. Schon der Gedanke daran bringt mein Blut in Wallung und vernebelt mir den Kopf.
    Wir kommen zum Oval, das einen saftigen und gepflegten Anblick bietet; der einzige Ort in Corrigan, der

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