Wer hat Angst vor Jasper Jones?
zuständig sind, vermisste Personen aufzuspüren. Wahrscheinlich sind sie gerade bei ihnen. Dutzende von Spezialisten. Sicher haben sie Landkarten und Wandtafeln und auf Tapeziertischen aufgebaute Telefonanlagen. Sie richten sich ein und trinken schwarzen Kaffee. Reden schnell und laut und drücken mit großer Geste ihre Zigaretten aus. Die Hemdkragen aufgestellt, die Krawatten gelockert. Sie postulieren und streiten. Folgen einer frischen Spur aus Brotkrumen und heißen Fährten, die sie geradewegs zu mir führen werden.
Diese Angst ist hundsgemein. Wenn sie zuschlägt, ist es, als hätte jemand am Schalter für die Schwerkraft gedreht. Alles sackt hart und kalt und schnell nach unten. Sie schnürt dir die Luft ab. Es ist das gleiche Gefühl, die gleiche beklemmende Panik, die einen erfasst, wenn man nicht schlafen kann, wenn die Gedanken abdriften und man ohne Grund daran erinnert wird, dass man irgendwann sterben muss. Dass man abtreten, begraben und vergessen wird. Dass alles und jeder, der einem lieb und teuer ist, null und nichtig wird. Und während sich dieses Wissen in einem breitmacht, dringt etwas in einen ein und schnürt einem das Herz ab, dass man kaum noch richtig Luft kriegt. Das Wissen ist wie ein Brennofen für den Wackerstein. Er sitzt fest und rührt sich nicht von der Stelle. Man begreift, dass in hundert Jahren jeder, der im Moment in Corrigan lebt, in Australien oder irgendwo sonst auf der Welt, jeder Erwachsene, jedes Kind und jedes Tier, tot sein wird. Es ist ein merkwürdiges und unsagbar trauriges Gefühl, das einen hohl und bleischwer zurücklässt.
Das ist es, was mich peinigt. Dahin hat mich Jasper Jones gebracht.
Also rolle ich mich auf die Seite und denke an Eliza. Ich rufe mir ihren Geruch in Erinnerung, und meine Angst zerstreut sich, stiebt auseinander wie Schmetterlinge. Ich denke daran, wie zart ihre Wangen aussehen und wie es sich anfühlen mag, sie zu küssen. Wie es sein mag, ihr Dinge ins Ohr zu flüstern, die sie zum Lächeln bringen, die ihr rasendes Herz besänftigen, sodass es schlägt wie das beständige Ticken im Uhrenturm der Miners’ Hall. Wie es sein mag, die Arme um ihre Taille zu schlingen. Ganz fest. Wie warm sie sich anfühlen mag. Und ich erschauere.
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3
Ich muss tief und fest geschlafen haben, denn ich erwache so, wie ich eingeschlafen bin, zusammengerollt auf der Seite. Ich fühle mich alt und träge, als könnte ich die Nacht noch einmal durchschlafen.
Ich blinzle. Beim zweiten Mal bleibt mein Blick am Fenster hängen.
Da ist eine Papierwespe. Dort drüben. Am Rand der Glaslamellen. Sie wirkt unruhig. Ihr Hinterleib bewegt sich langsam und drohend.
Meine Furcht breitet sich aus wie Sirupmasse. In meiner Benommenheit gebe ich mich zunächst damit zufrieden, sie zu beobachten, doch dann springe ich aus dem Bett, als hätte man mir einen Stromstoß versetzt. Ich habe mich noch nie schneller bewegt. Niemand hat sich je schneller bewegt. Ich bestehe nur noch aus Armen und Beinen, und mein Mund stößt eine Reihe von Vokalen aus. Ich greife auf meinen Nachttisch und werfe ein Buch nach der Wespe.
Die Nackten und die Toten
saust an der Wespe vorbei, trifft den Hebel der Jalousie und lässt sie zuschnappen.
Ich packe mein Handtuch und ergreife die Flucht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Wespe gerade in meinem Zimmer eingeschlossen oder sie aus ihm vertrieben habe. Meine Furcht sagt mir, dass sie eingeschlossen ist.
Und
, flüstert sie hinter vorgehaltener Hand,
jetzt habe ich sie richtig sauer gemacht.
Mein Herz wummert wie eine Boxbirne.
Im Badezimmer spritze ich mir lauwarmes Wasser ins Gesicht und versuche mich zu beruhigen. Statt eine Begegnung in meinem Zimmer zu riskieren, ziehe ich lieber ein paar Klamotten aus unserem Wäschekorb und streife sie über.
Natürlich hält meine Mutter mir eine Predigt, sobald ich in die Küche komme. Sie dreht sich nicht einmal um. Es ist, als könne sie den Sand und die Knitter erahnen.
«Charlie! Zieh das sofort aus. Das ist noch nicht gewaschen!»
Meine Mutter stellt mir eine Tasse Pablo-Kaffee vor die Nase und zerrt an meinem Baumwoll-T-Shirt. Ich reibe mir seufzend die Augen.
«Aber es ist doch noch gar nicht verdreckt. Es ist völlig in Ordnung», sage ich und nippe an meinem Kaffee.
«Nein, es ist
nicht
in Ordnung, Charlie. Ich sage es dir nicht noch einmal.»
Sie fixiert mich mit einem Blick, der einen Eisberg durchfräsen könnte. Doch heute Morgen ist mir das scheißegal.
Ich
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