Wer hat Angst vor Jasper Jones?
Sinn! Natürlich muss ich darüber Bescheid wissen!»
«Charlie!», faucht meine Mutter.
«Charlie!», warnt mich mein Vater.
Ich mache ein finsteres Gesicht. Meine Mutter wedelt mit ihrem Geschirrtuch.
«Siehst du, Wesley?» Sie ist hochgradig erregt. «Er ist genau wie du! Er hört verdammt noch mal nicht!»
Dann stürmt sie hinaus und knallt die Tür hinter sich zu.
Ich bin wie vom Donner gerührt.
«Was war denn das?», flüstere ich und deute zur Tür.
Mit einem weiteren Seufzen beugt sich mein Vater vor.
«Erinnerst du dich noch an das, was ich über Diplomatie gesagt habe, Charlie?»
«Was? Klar, aber …»
«Hör mal, wir beide können
später
darüber reden, ja? Sei ein bisschen klüger und provoziere sie nicht. Glaube mir, ich erzähle dir mehr als genug. In anderen Familien würdest du nicht das Geringste über die Sache erfahren, also sei froh.»
Er hat recht. Er hat immer recht. Aber etwas Stures, Suchendes in mir drängelt weiter.
«Okay. Das verstehe ich. Aber jetzt, wo wir darüber reden, sag mir doch bitte, ob sie wissen, mit wem sie sich getroffen hat.»
Ich kann nicht anders. Ich muss es wissen.
Die Miene meines Vaters kündet von schwindender Geduld. Ich bin dabei, den Bogen zu überspannen.
«Nein, sie haben keine Ahnung. Und ich konnte ihnen auch nicht helfen. In der Schule hat sie sich für niemanden begeistert, so viel ist sicher. Und viele Freunde hatte sie auch nicht. Es ist immer noch eine reine Vermutung, dass sie sich überhaupt mit jemandem traf. Es kann ebenso gut sein, dass sie allein weggegangen ist.»
«Heißt das, dass sie aufhören, hier nach ihr zu suchen? In Corrigan?»
«Charlie …»
Mein Vater hebt den Kopf und schaut zur Tür. Wir flüstern immer noch.
«Was denn? Sie kann uns doch nicht hören, und ich
muss
das wissen.»
«Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, mein Freund.» Er hält inne und mustert mich einen Moment. «Also gut. Nein, das heißt nicht, dass sie die Suche einstellen. Da draußen gibt es jede Menge Buschland. Und die Suchflugzeuge stehen noch eine Weile zur Verfügung. Noch ein paar Tage, würde ich annehmen. Morgen kommen die Taucher. Die Suchmannschaften werden weitermachen, solange es Freiwillige gibt. Aber es ist buchstäblich die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Laura ist wirklich spurlos verschwunden. Man weiß nicht, wo man anfangen soll. Sie kann überallhin gegangen sein. Sie ist ein kluges Mädchen. Und wenn Laura nicht gefunden werden will, macht das die Sache nur umso schwieriger. Die Leute tun ihr Bestes, aber sie haben nur wenig in der Hand. So sieht es aus. Ihre Familie tut mir schrecklich leid. Es muss die Hölle für sie sein.»
Wir schweigen. Ich starre eine Weile zu Boden. Dann frage ich, so beiläufig, wie ich nur kann:
«Darf ich morgen mit dir kommen? Um bei der Suche zu helfen?»
Mein Vater runzelt lediglich die Stirn.
«Natürlich nicht, Charlie. Nein, ausgeschlossen. Ende der Diskussion.»
Mit einem halben Lächeln steht er auf und streicht mir mit dem Daumen über den Haaransatz.
«Und vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.» Er deutet zur Tür. «Du hast einen klugen Kopf. Benutze ihn.»
Ich lächele schwach zurück und nicke.
Als ich später an Jeffrey denke, bereue ich, mit meinem Vater nicht über Vietnam gesprochen zu haben. Über den Krieg dort und über Jeffreys Familie und wie sie ums Leben gekommen ist. Nichts davon ergibt einen Sinn. Ich will, dass er mir erklärt, wie es dazu kommen konnte.
Von all den schrecklichen Dingen, die mir in letzter Zeit begegnet und durch den Kopf gegangen sind, erscheint mir das Abwerfen einer Bombe merkwürdigerweise am wenigsten gewaltsam, obwohl es eindeutig am schlimmsten ist. Allerdings gibt es kein böses Verbrecherfoto und keinen blutigen Handschuh. Und es ist schwer auszumachen, wen die Schuld trifft. Die große Entfernung lässt es irgendwie sauberer wirken. Vielleicht nimmt man mit zunehmender Distanz einfach weniger Anteil und fühlt sich weniger verantwortlich. Doch das erscheint mir falsch. Es sollte in den Nachrichten gebracht werden. Es ist nicht richtig, dass sie sterben mussten.
Aber würde es mir ebenso viel ausmachen, wenn es nicht Jeffreys Familie wäre? Schwer zu sagen. Wohl eher nicht, nehme ich an. Wenn wir uns jede schlimme Begebenheit auf der Welt zu Herzen nähmen, würde es uns schrecklich gehen. Wir kämen aus dem Weinen gar nicht mehr heraus und es würde eine Tragödie auf die nächste folgen. Wir wären nur noch ein Häufchen
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