Wer hat Angst vor Jasper Jones?
von ihnen besessen. Und es würde nie aufhören: die Möglichkeiten, die losen Enden, die Bruchstücke und Szenarien ließen sich niemals ganz greifen. Bestimmt würde man sich vor allem nach der Wahrheit sehnen. Egal, was das bedeutete. Selbst wenn es das Wissen wäre, dass die eigene Tochter oder die Schwester auf dem Grund eines Tümpels verankert ist. Dass jemand über sie hergefallen ist, sie geschlagen und erhängt hat. Dass sie einem genommen und geraubt wurde. Und begraben, ohne dass man zusehen, eine Handvoll Erde werfen und einen Abschiedsgruß murmeln konnte.
Ich lege den Stift hin, verschränke die Arme und lege den Kopf darauf. Und ich denke an Eliza. An ihre Wangen und ihren Duft. Ich muss es tun. Es ist die einzige Möglichkeit, diesen hungrigen Hund abzulenken, die Insekten zu verscheuchen, die meine Augen reizen, den Sturm in meiner Schneekugel zu beruhigen. Welch eine Welt!, sagte die grüne Hexe in meinem Traum vom
Zauberer von Oz
. Ich wette, sie war froh, gehen zu dürfen. Ich wette, etwas in ihr war erleichtert darüber, sich aufzulösen. Für manche Menschen muss das Wissen um den Tod angenehm sein. Eine Erleichterung. Welch eine Welt. So schlafe ich ein, den Koffer zu meinen Füßen sperrangelweit offen, einen Stapel ausgebreiteter Blätter unter den Armen.
Und Jasper Jones kommt nicht.
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5
Er kommt nicht, er kommt nicht, aber dann ist er plötzlich da.
Jasper Jones ist an mein Fenster gekommen.
Es ist eine Woche her, seit Laura umgebracht wurde. Es ist eine Woche her, seit ich Jasper gesehen habe. Es fühlt sich an wie ein ganzes Leben.
Es ist nicht viel passiert, seit alles passiert ist. Das Ashes-Testmatch endete unentschieden, und nicht einmal Doug Walters konnte ein positives Ergebnis herbeizwingen. Jeffrey schaffte es nicht in die Cricketmannschaft der Countryweek, was keine große Überraschung war. Meine Mutter war gereizt, mein Vater still besorgt und von bemühter Heiterkeit. Ich bekam immer weniger Schlaf, beendete
Knallkopf Wilson
und begann
Die Arglosen im Ausland
. Und ich musste keine weiteren Löcher mehr graben.
Die schwarzen Libellen verschwanden, und die Suchmannschaften begannen sich aufzulösen. Nur ein paar Einheimische und Leute aus Nachbarorten blieben übrig, um den Busch zu durchkämmen. Die Tauchtrupps tauchten und kamen mit leeren Händen wieder herauf.
Der nächste Schwung Einberufungsbefehle wurde zugestellt. Und ich erfuhr, dass drei junge Männer aus Corrigan zum Wehrdienst eingezogen worden waren. Mein Vater schüttelte den Kopf, als er mir davon erzählte.
Es war eine Woche her, seit wir ihren Leichnam versenkt hatten. Und Laura Wishart war immer noch dort, wo wir sie zurückgelassen hatten.
In Corrigan wurde das Ausgehverbot für die Kinder nach und nach gelockert, doch die Angst blieb. Die Kinder durften hinaus, und auf den Straßen wurde es wieder laut und bunt. Doch sobald die Dämmerung einsetzte, gingen die Türen zu und wurden verriegelt, und die Eltern blieben weiter angespannt und wachsam. Heute fand am frühen Abend in der Miners’ Hall eine Bürgerversammlung statt. Es gab nur Stehplätze. Die Wisharts waren nicht da. Ich hegte die Hoffnung, Eliza dort zu begegnen. Jeffrey war mit seiner Mutter dort, doch sie kamen zu spät und standen ganz hinten, deshalb konnte ich nicht mit ihm reden. Der Stadtkaplan und einige ältere Mitglieder des Stadtrates führten das Wort. Keiner von ihnen konnte auf die Fragen verbindliche Antworten geben. Sie plusterten sich auf, befingerten ihre Hemdkragen und sagten immer wieder das Gleiche. Es sei ein absolutes Rätsel, hieß es. Es gebe keine Hinweise, die in irgendeine Richtung deuteten. Sie sei wie vom Erdboden verschluckt. Aller Wahrscheinlichkeit nach habe sie die Stadt per Anhalter verlassen, meinten sie. Daher hatte man die Suche auf weitere Bundesstaaten ausgedehnt und in den Nachrichten im ganzen Land um Hinweise gebeten. Ich holte tief Luft. Der Kaplan, den alle Reverend Stachelbeere nennen, weil er nur einen Hoden hat, trat voller Dünkel und mit theatralischer Feierlichkeit ans Rednerpult. Er leitete die Versammlung mit einem Gebet ein und versicherte uns, dass Gott Laura sicher zu uns zurückbringen würde. Ich hob den Kopf und sah, wie mein Vater die Augen zusammenkniff und sich mit dem Daumen unterm Kinn rieb. Ehe die Leute hinausströmten, wurden sie daran erinnert, wachsam zu bleiben und die Augen offen zu halten. Und falls jemand Informationen haben sollte, die
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