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Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Silvey
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nützlich sein könnten, dann möge er oder sie unverzüglich nach vorne kommen.
    Ich gestattete mir, ganz langsam wieder auszuatmen.
    Ich hatte mich noch nie so allein gefühlt wie in diesem Moment, eingezwängt und gefangen zwischen sämtlichen Bewohnern der Stadt. Es war, als sei ich aus einem anderen Stoff gemacht. Als käme ich von einem anderen Ort. Als spräche ich eine andere Sprache.
    Zwischen den hiesigen Ordnungshütern und streng blickenden Großstadtpolizisten, den Freiwilligen, den hysterischen Müttern und betretenen Vätern saß ich mitten in der Höhle des Löwen. Und einmal mehr traf es mich mit voller Wucht: was ich getan hatte, mein Pakt mit Jasper Jones, die Tragweite unseres Tuns. Wenn irgendjemand hier wüsste, was ich getan hatte, würde man mich anspucken und anschreien.
    Doch sie wussten nichts. Sie hatten keine Ahnung. Und niemand in Melbourne oder Sydney oder Adelaide konnte ihnen zu Hilfe kommen. Niemand außerhalb dieser Stadt konnte wissen, was ich gesehen hatte.
    Jasper und ich waren im Moment frei von jedem Verdacht. Man hatte Laura nicht entdeckt und niemand hatte uns in jener Nacht auf der Straße gesehen. Dafür war ich natürlich dankbar, doch ich war auch verzweifelt. Wenn all diese Leute, mit ihren Suchmannschaften und Spürhunden, ihren Flugzeugen, Tauchtrupps und Befragungen nicht weiterkamen, wenn sie keine Hinweise entdecken konnten, welche Chance hatten wir dann?
    Nach der Versammlung gingen alle in den Vorhof der Miners’ Hall, wo Klapptische mit Kaffee- und Teekannen und Tellern voller Selbstgebackenem standen. Eltern schoben sich durch die Menge, drängten ins Freie und schlugen ihren Kindern auf die Hände, wenn sie nach dem Kuchen griffen. Es war die Gelegenheit für Klatsch und Tratsch; Ehefrauen verbreiteten mit hochgezogenen Augenbrauen Gerüchte und wurden dafür von ihren Männern ausgeschimpft.
    Draußen vor der Versammlungshalle spielten die Kinder zwischen den geparkten Autos Fangen. Diejenigen in meinem Alter lungerten herum und stachelten sich gegenseitig an, drinnen Essen zu stibitzen. Sommerpärchen nutzten die Gelegenheit. Sie sahen sich mit verstohlenen Blicken um und stahlen sich zum Schmusen und Begrabschen hinter das Gebäude oder über die Straße hinter den Eisenwarenladen.
    Ich entdeckte Jeffrey ziemlich schnell. Er kaute einen Ingwerkeks, den er auf dem Weg nach draußen ergattert hatte.
    «Flinke Finger, Chuck», sagte er. «Genau wie Artful Dodger. Ich hätte den ganzen Teller mitnehmen können, ohne dass es einer merkt.»
    «Dann wärst du aber in null Komma nichts ein Furzfinger.»
    Jeffrey lächelte mit vollem Mund.
    «Eigentlich wissen die gar nichts, stimmt’s?»
    «Was meinst du damit?», fragte ich.
    «Ich meine die Polizei. Das ist doch dumm. Sie veranstalten eine große Versammlung, nur um uns zu erklären, dass sie genauso wenig wissen wie wir. Sie hatten bestimmt bloß Hunger.» Damit stopfte er sich den Rest des Ingwerkekses in den Mund.
    «Wahrscheinlich hast du recht», sagte ich.
    «Ich habe immer recht», sagte Jeffrey nach längerem Kauen. «Ich bin ein Genie. Und mir ist langweilig. Ein scharfer Verstand wie meiner braucht Stimulation. Geh wieder rein und sag ihnen, dass du es warst, damit wir alle nach Hause gehen können.»
    Dann entstand ein Tumult. Er zerriss die Luft und ließ alle verstummen. Ich hörte einen Schrei im Vorhof, Geschirr klirrte, Menschen hielten den Atem an, dann folgte eine lang anhaltende Flut von Schluchzern und Gekreische. Es war laut und unverständlich. Köpfe wandten sich um.
    Folgendes hatte sich ereignet:
    Eine Frau namens Sue Findlay, der ich noch nie begegnet war, hatte beim Verlassen des Versammlungsraums Jeffreys Mutter entdeckt, die sich ruhig und unauffällig aus einer der Kannen Wasser in ihre Teetasse goß. Sue Findlay war von kastenförmiger Statur und trug einen dicken Bob, und nach dem, was mein Vater mir später erzählte, war sie einfach explodiert. Ihre Augen leuchteten auf, als hätte jemand einen Penny eingeworfen. Sie schrie, bis sie knallrot anlief, und stürmte dann zu Mrs. Lu hinüber. Sie schlug ihr die Tasse gegen Brust und Kinn, dass ihr das Wasser die dünne Sommerbluse durchtränkte und die Haut verbrühte. Die Tasse zerbrach. Mrs. Lu hatte sich erschrocken vorgebeugt und war zurückgewichen. Aber Sue Findlay war noch nicht fertig. Mit ausgestrecktem Zeigefinger, tränenerstickter Stimme und irrem Blick stieß sie die schrecklichsten Beschimpfungen aus, die man sich

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