Wer hat Angst vor Jasper Jones?
Aufräumen zu helfen.
Auf der kurzen Fahrt nach Hause erklärte er mir den Grund für Sue Findlays Ausbruch.
Ihr Mann Ray war vor einigen Monaten im Krieg ums Leben gekommen. Sie hatten eine wacklige Ehe geführt, dennoch hatte sein Tod Sue sehr zugesetzt. Und gestern hatte ihr ältester Sohn ihr mitgeteilt, dass er für den Kriegsdienst in Vietnam ausgelost worden war. Das hatte ihr den Rest gegeben.
«Das macht die Sache nicht besser», sagte ich ungnädig. «Mrs. Lu hat damit nichts zu tun! Es ist ungerecht!»
«Charlie …» Mein Vater neigte den Kopf und seufzte, dass seine Grübchen zum Vorschein kamen.
«Niemand hat ihr geholfen!», rief ich laut. «Niemand hat auch nur daran gedacht, es zu tun.»
Mein Vater sagte gar nichts.
Jasper Jones steht vor meinem Fenster.
Mein Mund wird ganz trocken, und das Herz will mir aus dem Leib springen, als ich auf mein Bett klettere, um die Jalousie hochzuklappen.
«Charlie!»
, zischt er und klopft erneut.
Das Erste, was mir auffällt, ist sein Gesicht. Sein linkes Auge sieht aus wie ein Cricketball. Eine leuchtende Kugel mit einer einzigen Naht. Seine Lippe ist an einer Stelle aufgeplatzt und voller getrocknetem Blut.
«Was ist mit deinem Gesicht passiert?», frage ich leise und drängend.
«Erzähl ich dir gleich», sagt er und sieht sich prüfend im Zimmer um. «Kannst du rauskommen?»
Es ist spät. Mein Vater ist in seinem Bibliothekszimmer, meine Mutter noch nicht von der Miners’ Hall zurückgekehrt. Ich wäge die Risiken ab. Sie sind hoch.
«Wo …?», flüstere ich. Doch er hat sich wieder in die Dunkelheit zurückgezogen. Ich spähe hinaus, kann ihn aber nicht sehen. Ich höre einen dumpfen Aufprall und ein leises Grunzen von Jasper. Der Nachbarshund beginnt zu bellen. Ich halte die Luft an.
«Wer hat das riesige Loch mitten in eurem Garten gegraben?», fragt Jasper und wischt sich die Erde vom Hemd.
«Das war ich. Ist eine lange Geschichte.»
«Scheiße, Charlie. Dann füll das verdammte Ding wenigstens wieder richtig auf.»
«Wo bist du gewesen?», frage ich. Ich will ihm sagen, wie erleichtert ich bin, ihn zu sehen, doch ich tue es nicht.
«Überall und nirgends», sagt er und fährt sich durch die Haare. «Fertig?»
Wieder überschwemmt mich die Flut aus Angst und Erregung. Ich habe keine Wahl, ich muss ihm folgen. Lieber gehe ich dieses Risiko ein, als noch eine durchwachte Nacht voller Sorgen und Fragen zu verbringen. Lieber hocke ich im Gefängnis, als weiterhin mir selbst überlassen zu bleiben.
Wir ziehen los, schleichen uns seitlich am Haus vorbei zur Straße. Ich bin aufgekratzt und fühle mich wichtig.
«Können wir uns das wirklich erlauben? Patrouillieren sie denn nicht?»
«Nö», erwidert Jasper, ohne sich umzudrehen. «Sie haben vor zwei Nächten damit aufgehört. Und heute Abend lassen sie sich sowieso im Sovereign volllaufen.»
«Ehrlich?»
«Ehrlich.»
Wir bewegen uns schnell und sind auf der Hut. Halten uns von Straßenlaternen fern und laufen über leerstehende Grundstücke, wenn es geht. Ich muss Dutzende Male stehen bleiben, um mir Dornen aus den Sandalen zu pulen. Jasper wartet ungeduldig. An der Clement Street hören wir einen Wagen näherkommen und sehen kurz darauf das sanfte Licht der Scheinwerfer hinter einer Kurve. Jasper packt mich und zieht mich in einen Vorgarten, wo wir uns hinter einen breiten Dornenbusch hocken. Ich bemerke eine Spinnwebe an mir und spüre, wie etwas auf mir herumkrabbelt. Ich möchte loswimmern. Jasper hält mich immer noch fest, während wir darauf warten, dass der Wagen vorbeifährt. Ich schwitze. Alle meine Muskeln sind angespannt. Ich will davonrennen, schreien und mit den Händen um mich schlagen.
Natürlich bremst der Wagen und biegt ausgerechnet in die Einfahrt jenes Hauses, vor dem wir Zuflucht gesucht haben. Ich könnte platzen. Könnte an Ort und Stelle in die Luft gehen. Nur wenige Meter entfernt kommt der Wagen stotternd zum Stehen. Die Tür geht quietschend auf. Es ist wie in einem Horrorfilm.
Ein Mann steigt aus. Er ist alt und betrunken. Wenn er uns erwischt, sind wir geliefert. Wir sehen ihn über den Rasen auf sein Haus zuwanken. Er lehnt sich an einen Verandapfosten und versucht seinen Gürtel zu öffnen. Ich hasse ihn. Verdammt noch mal,
irgendetwas krabbelt auf mir herum
. Am liebsten würde ich mir die Kleider vom Leib reißen und mich auf dem Boden wälzen, als stünde ich in Flammen.
Nachdem er eine Weile vergeblich herumgefummelt hat, hebt der Mann die
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