Wer hat Angst vor Jasper Jones?
vorstellen kann. Das alles geschah so schnell, dass die umstehenden Leute einfach nur zusahen. Ich weiß nicht, wo Sue Findlays Ehemann war. Erst als sie Mrs. Lu bei den Haaren packen wollte, drängte sich Reverend Stachelbeere durch die Menge, fasste sie fest an den Schultern und führte sie fort.
Mrs. Lu streckte nur stumm den Arm aus und angelte mit zitternder Hand nach einer Serviette. Ihr legte niemand den Arm um die Schultern.
Dann schob sich Jeffrey durch die umstehende Menge. Ich war direkt hinter ihm. Er ging geradewegs auf seine Mutter zu und berührte sie an der Hüfte, während sie sich die Brust abtupfte.
«Wir sollten jetzt gehen, Ma.»
Das war alles, was er sagte. Ohne Umschweife, als wäre nichts geschehen. Mrs. Lu nickte. Sie muss schlimme Schmerzen gelitten haben. Jeffrey führte sie mit hoch erhobenem Kopf hinaus, als wäre alles nur ein dummes Missgeschick gewesen. Mrs. Lu sah mitgenommen und verlegen aus. Die Leute rückten langsam auseinander. Ich folgte ihnen stumm.
Jeffrey öffnete seiner Mutter die Wagentür, und die Leute sahen zu, beobachteten sie, als wären sie zur Schau gestellt. Als das Auto ansprang, kurbelte Jeffrey das Fenster herunter und winkte.
«Mach’s gut, Chuck», sagte er.
Mir fehlten die Worte. Ich hob kraftlos die Hand.
Anschließend kreiste ich um meine Eltern. Hörte zu, wie mein Vater bei sämtlichen besorgten Eltern, die uns über den Weg liefen, die gleichen Platituden abließ. Sah, wie meine Mutter auf übertrieben mitfühlende Art herumscharwenzelte und gackerte. Ich war gereizt. Niemand sprach über das, was gerade geschehen war. Kein einziges Wort.
Dann erwähnte jemand Jasper Jones. Auf die gleiche Art, wie damals, als das Postamt abgebrannt war. Misstrauisch und mit gerunzelten Brauen. Und mein Vater hörte verdutzt zu, als könne er es kaum ertragen und wisse es besser, doch er verteidigte Jasper mit keinem Wort. Sagte nichts von dem, was ich am liebsten herausgebrüllt hätte. Also drehte ich mich seufzend um und trat mit aller Kraft gegen eine Eukalyptusfrucht. Sie schlitterte über die Straße. Ich ließ meine Eltern stehen und setzte mich hinten in unseren Wagen. Dort grummelte und schwitzte ich vor mich hin und betrachtete die Stadt durch die schmutzigen Scheiben. Ich war voller Trauer und Hass. Wie viele von ihnen hatten im Laufe der letzten Woche wohl Jaspers Namen erwähnt? Alle wahrscheinlich. Ich fragte mich, wie viele wohl hier und jetzt über ihn redeten.
In diesem Moment wurde mir klar, dass wir vielleicht wirklich aus den richtigen Gründen das Falsche getan hatten. Wenn wir Laura Wishart dort gelassen hätten, wo sie war, würde man sie finden. Irgendwann würde jemand auf diese Lichtung stoßen. Und dann würde es nicht lange dauern, bis sie Jasper damit in Verbindung brachten. Er hatte recht. Diese Stadt suchte tatsächlich nur nach einem Vorwand. Und eine Zufälligkeit hätte ihnen gereicht.
Man hätte ihn gefesselt und eingesperrt wie Eric Cooke. Ihn geschlagen und gelyncht wie Laura Wishart.
Ich starrte auf meinen Schoß. Plötzlich erschien mir die Vorstellung, mit Eliza in New York zu wohnen, als der schönste Gedanke der Welt. Ich lehnte den Kopf an die Scheibe und malte mir alles aus. Stellte mir vor, sie in Manhattan zum Fünf-Uhr-Tee zu treffen, was immer das auch sein mochte; wichtig war nur, dass es weit weg war von diesem Ort und von diesen Menschen. Ich stellte mir vor, ihre Hand zu halten und ihr Dinge zu kaufen. Ihr beim Abschied die Wange zu küssen. Ich könnte mit Jasper Jones zusammenleben. In Brooklyn. Dort wären wir in Sicherheit. Dort könnte uns niemand finden, niemand würde etwas ahnen. Jasper Jones würde New York City erobern, und ich wäre an seiner Seite, mit einem Mädchen am anderen Ende der Stadt.
Die Außenbeleuchtung der Miners’ Hall ging an und unterbrach meine Träumereien. Die Sonne schwand, und ihr durchdringendes Licht färbte plötzlich die Luft gelb. Wie auf Kommando begannen die Mütter ihre Kinder einzusammeln, und die Männer machten sich auf den Weg zum Pub, um ihren Lohn zu vertrinken. Ich sah Sue Findlay die hölzernen Stufen herunterkommen. Sie hielt sich ein weißes Taschentuch vor das Gesicht und wurde von einem großen Mann geführt, den ich nicht kannte. Ich hätte ihr am liebsten Gift entgegengespuckt. Mit verächtlich verzogenem Mund sah ich ihr nach.
Mein Vater kam zum Wagen und gab mir mit einem Zeichen zu verstehen, einzusteigen. Meine Mutter blieb noch, um beim
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