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Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Titel: Wer hat Angst vorm bösen Mann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Borwin Bandelow
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hochkocht, kann man in einem Rechtsstaat nicht unangemessen drakonische Strafen verhängen. So kann man nicht einen Exhibitionisten, der im Park Frauen erschreckt, fünfzehn Jahre einsperren und einem Vergewaltiger eine längere Haft aufbrummen als einem Raubmörder, selbst wenn man von einer hohen Rückfallgefahr ausgeht.

Das Narrenhaus
    Äußerst kontrovers wird der Fall Anders Behring Breivik diskutiert, der 2011 in Norwegen siebenundsiebzig Menschen tötete – meist Teilnehmer eines Zeltlagers einer sozialdemokratischen Jugendorganisation –, weil er an eine heimliche Machtübernahme islamischer Einwanderer glaubte und die Sozialdemokraten dafür verantwortlich machte. Zwar attestierten ihm zwei Psychiater, Synne Sørheim und Torgeir Husby, in einem ersten Gutachten eine paranoide Schizophrenie. Als Indizien hierfür führten sie an, dass er unter Wahnvorstellungen litt, sich verfolgt glaubte, Neologismen benutzte (Wörter, die niemand außer ihm verstand) und zu seiner Mutter zog, was typischerweise Schizophrene tun, wenn ihre Fähigkeit nachlässt, für sich selbst zu sorgen. Eine Schizophrenie-Diagnose würde in Norwegen automatisch eine Schuldunfähigkeit nach sich ziehen. [70] Dies löste bei den meisten Norwegern ein völliges Unverständnis aus. Die Einschätzung der Sachverständigen wurde angezweifelt, und es wurde ein zweites Gutachten von den Rechtspsychiatern Agnar Aspaas und Terje Tørrissen erstellt, dem zufolge bei dem Täter eine Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, antisozialen und paranoiden Anteilen vorlag – bei einer solchen Diagnose verlor er nicht automatisch die Verantwortung für seine Taten.
    Am 24 . August 2012 wurde Breivik für voll schuldfähig befunden und zu einer einundzwanzigjährigen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Alle waren zufrieden: die Hinterbliebenen der Opfer sowie die norwegische Nation, die nach Umfragen zu 87  Prozent die volle Schuldfähigkeit befürwortete. Selbst der Täter grinste bei der Urteilsverkündung, denn er wollte auf keinen Fall ins «Narrenhaus». Aber viele Psychiater hatten Zweifel: Die Tatsache, dass Breivik früher insgesamt 500 000  Euro durch den Verkauf gefälschter Diplome verdient hatte und seine Tat sehr kontrolliert und akribisch plante, spricht zwar für die Fähigkeit zu zielstrebigem Handeln, aber nicht zwingend dafür, dass auch jene Teile seines Gehirns zur Tatzeit voll funktionsfähig waren, die für das soziale Miteinander zuständig sind. Allein seine grausame Tat, die in ihrer Tragik und Sinnlosigkeit alles Bisherige in den Schatten stellte, spricht für eine massive Beeinträchtigung seiner Urteilsfähigkeit und eine Aufhebung der Einsicht in das von ihm begangene Unrecht. Aber die Öffentlichkeit hätte wohl eine Schuldunfähigkeit nicht akzeptiert, selbst wenn der Täter bis zum Ende seines Lebens in die Psychiatrie eingewiesen worden wäre.
     
    Je mehr das Wissen um die neurobiologischen Hintergründe unsozialen Handelns zunimmt, desto differenzierter müssen wir uns mit der Frage von Schuld und Sühne beschäftigen. Eine einfache Unterscheidung in «
mad or bad
» wird den komplexen Vorgängen im Gehirn eines Täters nicht gerecht.
    Aber ist es wirklich so, dass antisoziale Menschen kein soziales Gehirn haben?

Ist der Ruf erst ruiniert …
    Das soziale Angstsystem ist der Gegenspieler des EOS und des Belohnungssystems. Diese Instanz ist wie unser schlechtes Gewissen: Sie warnt uns, wenn immer wir gegen Regeln und Gesetze verstoßen wollen. Wenn ein Junge beim Bäcker die Apfeltasche, ohne zu bezahlen, direkt in den Mund stopfen will, wenn eine Frau auf einer Party einem gutgebauten Herrn ohne Ankündigung in den Schritt greifen will, wenn wir unsere Steuererklärung zuungunsten des Finanzamts ausfüllen oder unser Auto auf einem Behindertenparkplatz parken wollen, weist uns das soziale Angstsystem in unsere Schranken. Es warnt uns vor den möglichen Folgen unsozialen Verhaltens wie Blamagen, Bloßstellungen, Ohrfeigen, Strafzetteln, Abmahnungen oder dem Verlust unseres guten Rufs. Es sorgt dafür, dass wir nicht ehebrechen, lügen oder stehlen.
    Nicht erst seitdem wir die Zehn Gebote haben, erlegten sich Menschen immer wieder strenge soziale Regeln auf. Auch die Evolution hat dazu beigetragen, dass sich eine Menschheit entwickelt hat, deren Vertreter normalerweise mehr oder weniger friedlich miteinander auskommen. Natürlich findet man zu allen Zeiten einen gewissen Prozentsatz

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