Wer hat Angst vorm bösen Mann?
Monate oder gar Jahre an dem Masterplan, uns einen guten Ruf zurechtzuzimmern. Wir sind anderen gegenüber oft hilfsbereit, selbst wenn nicht sicher ist, ob oder wann sich das einmal auszahlt. Wir spenden für Flutopfer in Pakistan, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass wir für diese gute Tat jemals eine Gegenleistung erhalten (mal abgesehen von der Spendenbescheinigung für das Finanzamt).
Dieses vorausschauende Denken ist genau das, was antisoziale Personen nicht beherrschen. Das, was wie eine Unfähigkeit aussieht, die Gefühle anderer Menschen zu verstehen, ist in Wirklichkeit das Unvermögen, die abgelesenen Informationen für eine nachhaltige Strategie zu nutzen.
Und hier kommt wieder das EOS ins Spiel. Dieses System will seine Gratifikation augenblicklich. Jeder kennt das: Wenn wir hungrig und durstig sind, wollen wir am liebsten sofort ein Jägerschnitzel und ein großes Bier haben. Für diese Ungeduld sorgen unser EOS und unser Belohnungssystem – beide Systeme streben die unmittelbare Befriedigung an. Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeit verlangen aber noch mehr als gesunde Personen nach einer raschen, umweglosen Erfüllung der Bedürfnisse. Genauso wie sie lieber ein Mobiltelefon aus einer Damenhandtasche stibitzen, anstatt wochenlang dafür zu sparen, oder sich Heroin spritzen, um die Endorphin-Rezeptoren im Gehirn besonders schnell zu besetzen, dulden sie auch im sozialen Miteinander keinen Belohnungsaufschub: Roland F. will sofort Sex mit einer Frau, die er gerade an der Bar kennengelernt hat. Er verschwendet keine Sekunde mit Gedanken an Probleme, die sich mit seiner schwangeren Freundin Moni ergeben könnten. Wenn Harry W. grandiose Geschichten von seinem hochdotierten Job und beispiellosen finanziellen Erfolgen erzählt, dient das dem Zweck, jetzt, genau in diesem Moment Bewunderung und Respekt zu bekommen – ohne daran zu denken, wie peinlich es ist, wenn sich nach ein paar Tagen herausstellt, dass er Hartz IV bezieht und 30 000 Euro Schulden hat.
Macht ist das Elixier
Bei gesunden Menschen findet eine Abwägung zwischen dem Streben nach EOS -Befriedigung und dem Einhalten moralischer Regeln statt. Bei «normalen» Personen glückt dies jedoch auch nicht immer, sonst gäbe es keine Reederswitwen, die beim Parfumklau erwischt werden, Lehrer, die Sex mit einer siebzehnjährigen Schülerin haben, oder Bischöfe, die mit zwei Promille in der Blutbahn ihr Auto nach Hause steuern. Die Abstimmung zwischen Bedürfnissen und ethischen Überlegungen scheint aber bei antisozialen Persönlichkeiten ganz aus dem Ruder geraten zu sein. Wohlgemerkt: Wir haben es hier nicht mit einem Totalausfall der sozialen Hemmung zu tun. Es geht um ein Austarieren zwischen Macht und Moral. Wer Gesetze und Regeln bricht, andere ausraubt, peinigt oder vergewaltigt, demonstriert Überlegenheit. Und Macht ist ein Elixier, das die Endorphin-Ausschüttung maximiert.
Einer meiner jungen Patienten, der bereits viermal wegen Betäubungsmittelkriminalität verurteilt worden war, erzählte mir, dass es sich bei diesen aufgedeckten Strafsachen nur um einen Bruchteil seiner gesamten Taten handeln würde – und platzte dabei fast vor Stolz. Das Gefühl, Verordnungen zu brechen und ohne Strafe davonzukommen, wird als höchstes Glück empfunden, für das es sich lohnt, ab und zu ein paar Sozialstunden abzureißen. Der Affekt, andere einschüchtern und beherrschen und in einem Rechtsstaat völlig unbehelligt sein Unwesen treiben zu können, scheint bei Antisozialen die Beschämung über das gelegentliche Erwischtwerden auszugleichen.
Antisoziale lügen oft ohne Not, wobei es hierbei auch wieder um eine Demonstration von Macht geht. Werden sie dann ertappt und zur Rede gestellt, scheinen sie die Situation sogar zu genießen, anstatt beschämt den Blick zu Boden zu senken. Dem Betrogenen soll Überlegenheit signalisiert werden: «Ich weiß, ich bin ein Arschloch, aber ich komme meistens damit durch.»
Das soziale Angstsystem bei der antisozialen Störung ist also nicht durch ein Fehlen von Mitgefühl gekennzeichnet, sondern durch ein eher übersteigertes Einfühlungsvermögen, das zum Zweck der Machtausübung benutzt wird. Es ist auch nicht durch ein Fehlen von Scham charakterisiert, sondern durch ein ungeduldiges Streben nach sofortiger Gratifikation, wobei die Zukunftsplanung auf der Strecke bleibt. Die Gehirneinheit, die zwischen den ungeduldigen Ansprüchen des EOS und den moralischen Einschränkungen des sozialen
Weitere Kostenlose Bücher