Wer hat Angst vorm bösen Mann?
unsozialer Menschen. Aber eine Völkergemeinschaft, bei der gesellschaftsschädigendes Verhalten zur Maxime wird, würde sich über kurz oder lang selbst ausrotten. Sicher, es gibt Kriege, in denen Millionen Menschen sterben, und verfeindete Nationen, die über Generationen in Unfrieden leben, aber die prinzipielle Tendenz bei den meisten Menschen ist ein Streben nach friedvoller Koexistenz und gegenseitiger Rücksichtnahme.
Wo aber sitzt diese soziale Moralinstanz in unserem Gehirn? Wir wissen es noch nicht genau, aber nach Analyse von Ausfällen, die Menschen haben, bei denen der vordere Anteil des Frontalhirns, der sogenannte präfrontale Cortex, geschädigt ist, müssen wir davon ausgehen, dass wesentliche Teile des sozialen Angstsystems dort angesiedelt sind. In einer Untersuchung konnte man zum Beispiel bei Versuchspersonen den Gerechtigkeitssinn ausschalten, indem man einen Teil des präfrontalen Cortex mit Hilfe einer über den Kopf gehaltenen Magnetspule reizte, also durch die Schädelkalotte hindurch. [71] Allerdings können sich Frontalhirnschädigungen in sehr unterschiedlichen Symptombildern äußern, sodass wir die genaue Lokalisation der Moral weiterhin nicht genau kennen.
Das Frontalhirn ist bei Menschen stärker ausgeprägt als bei Tieren und nimmt wahrscheinlich einen relativ großen Volumenanteil in unserem Gehirn ein, möglicherweise, weil es sehr viel «Festplattenkapazität» und «Rechnerleistung» beansprucht. Es ist nicht so, dass Tiere nicht sozial denken. Affen haben ein ausgefeiltes Sozialsystem, und jeder Hundebesitzer würde seinem Liebling zahlreiche soziale Fähigkeiten zugestehen. Selbst Löwen gehen in Gruppen auf die Jagd und teilen die Beute. Dennoch haben diese sozialen Verhaltensweisen bei Tieren eher den Charakter eines Instinkts, also eines vorprogrammierten, automatischen Verhaltens. Aus diesem Grund brauchen sie vielleicht weniger Speicherplatz.
Bei Menschen muss das soziale Gehirn dagegen sehr komplexe Aufgaben bewältigen und extrem flexibel sein. Es muss sich um Dinge wie Scham, Schuldbewusstsein, Sittsamkeit, Zurückhaltung, Ehre und Solidarität kümmern. Unzählige, teilweise unübersichtliche oder unsinnige Regeln muss dieses System verwalten: wie man einen balinesischen Priester oder eine dänische Prinzessin korrekt anredet, wie tief das Dekolleté auf dem Wiener Opernball sein kann, wie weit in einem muslimischen Land das Kopftuch nach hinten geschoben werden darf, wie man sich politisch korrekt über Minderheiten äußert, ab wann man eine jüngere Arbeitskollegin duzt und wie man seinen Beziehungsstatus bei Facebook angibt.
Bei Kindern entwickelt sich dieses soziale Angstsystem recht spät, lange nachdem sie die ersten Englischvokabeln lernen, schwierigere Mathematikaufgaben lösen, Mozart geigen oder Schach spielen können. Soziales Denken ist eine der größten Herausforderungen für unser Denkorgan.
Bei einigen Menschen ist das Angstsystem zu sensibel eingestellt – sie leiden an einer sozialen Phobie, einer extremen Form der Schüchternheit. [72] Stehen sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit oder werden sie von anderen kritisiert, kommt es zu Symptomen wie Herzrasen, Zittern, Schwitzen und Erröten. Sie haben oft Nachteile im Leben, weil sie zu rasch nachgeben, sich von anderen übervorteilen lassen, in jeder Hinsicht ein Schattendasein führen und trotz guten Aussehens keinen Partner finden. Aus Angst, negativ beurteilt zu werden, bemühen sie sich oft in übertriebener Form, sich permanent korrekt zu verhalten und es allen recht zu machen – und treiben dabei einen unverhältnismäßig hohen Aufwand. Weil sie nichts mehr fürchten, als sich zu blamieren, versuchen sie, in der Schule oder im Beruf stets die besten Leistungen zu erbringen. Sie sind zu jedem freundlich und wollen es allen recht machen.
Antisoziale Persönlichkeiten sind in dieser Beziehung das genaue Gegenteil sozialphobischer Menschen. In ihrem Leben bringen sie sich immer wieder selbst in Situationen, in denen sie wegen ihrer Missetaten öffentlich getadelt, zur Rede gestellt, beschuldigt, abgestraft, beschimpft, vorgeführt, erniedrigt, beleidigt oder gehasst werden. Mit bemerkenswertem Gleichmut überstehen sie solche Herabwürdigungen ihrer Person vor Gericht oder in Zeitungsartikeln. Scheinbar geht ihnen jegliches Gefühl für Scham ab.
Aber ist es wirklich so einfach? Nein. Antisoziale sind nicht selten ausnehmend narzisstisch veranlagt. Sie legen Wert auf ihr Äußeres und
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