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Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Titel: Wer hat Angst vorm bösen Mann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Borwin Bandelow
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Unterscheidung machen? Woher wissen wir, dass nicht auch die Menschen, die wir als antisozial bezeichnen, eine Hirnschädigung haben, die zwar nicht durch einen groben Schaden wie eine Schussverletzung oder eine Hirnhautentzündung entstanden ist, sondern auf uns unbekannte, diskrete Weise, die sich selbst bei einer mikroskopischen Untersuchung des Gehirns nicht darstellen würde? Vielleicht erfassen wir die Beeinträchtigung einfach nur nicht, weil sie auf Bildern des Gehirns eben nicht als großer Hohlraum zu sehen ist – und sich auch unseren sämtlichen anderen diagnostischen Methoden entzieht.
    Schaut man sich das individuelle Gehirnbild eines antisozialen Patienten an, sieht es nämlich in der Regel auf den ersten Blick völlig normal aus. Aber stellt man den Durchschnitt aus den Kopf-Kernspintomographien mehrerer antisozialer Personen dar und vergleicht ihn mit einer Gruppe gesunder Menschen, so findet man doch einige anatomische Unterschiede, die sich hauptsächlich im Bereich des Stirnhirns und des Schläfenlappens zeigen. [67] , [68] Allerdings wissen wir noch nicht, wie genau sich diese feinen Differenzen auswirken.
    Dies wirft eine ethische Diskussion auf: Wenn dissoziale Menschen ein geschädigtes Gehirn haben, müssten sie dann nach einer Straftat nicht ebenso schuldunfähig gesprochen werden wie ein geistig Behinderter?
    Einen sechzehnjährigen Schizophrenen, der seine Mutter getötet hat, würde man nicht auf dem elektrischen Stuhl hinrichten, weil er aufgrund seiner Psychose nicht wusste, was er tat, und unter dem Einfluss von Stimmen stand. Wie ist es da mit antisozialen Personen? Je mehr die Forschung aufdeckt, dass die Gehirne der Antisozialen nicht ordnungsgemäß arbeiten, müssen wir darüber nachdenken, ob wir sie vielleicht ungerecht behandeln, wenn wir sie für voll verantwortlich halten.
    «Wie bitte, Psychopathen sollen straffrei ausgehen?», fragt sich jetzt natürlich so mancher. «Sie sind doch oft intelligent, können einen komplexen Computerbetrug durchführen, eine Wegfahrsperre ausschalten oder Geldautomaten manipulieren. Somit zeigen sie, dass ihnen das Unrecht ihrer Taten bewusst sein muss.»
    Aber so einfach ist es nicht. Denn es kann sein – wie bei Phineas Gage oder Reinhold K. –, dass bei antisozialen Menschen nur das soziale Gehirn gestört ist, während andere Teile des Gehirns ordnungsgemäß funktionieren, die für das Zusammensetzen einer Luger, das Hacken eines Passworts oder das Fälschen eines Ausweises zuständig sind. Nehmen wir einmal an, dass bei Antisozialen relativ ausgestanzt diejenigen Hirnzentren eine Fehlfunktion aufweisen, die sich mit Recht, Moral und Ethik befassen. Müssen wir den Betroffenen dann nicht eine eingeschränkte Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zugestehen? Doch bei dieser Frage sind sich selbst die forensischen Fachleute nicht einig: Der eine Gutachter sieht alle Antisozialen als voll schuldfähig an, der andere hält manche von ihnen für vermindert einsichts- und steuerungsfähig.

Schuld und Sühne
    Am Anfang meiner Psychiaterkarriere arbeitete ich ja in einem Krankenhaus für forensische Psychiatrie. Um als Patient in den sogenannten psychiatrischen Maßregelvollzug zu kommen, muss man erhebliche Straftaten begangen haben und unter einer seelischen Erkrankung leiden, die die Schuldfähigkeit beeinträchtigt. In diesem Zusammenhang muss man «Schuldunfähigkeit» und «verminderte Schuldfähigkeit» unterscheiden, wobei die zugrunde liegende psychische Erkrankung dabei entscheidend ist. Jemand mit einer Schizophrenie oder einer schweren geistigen Behinderung wird am ehesten als vollständig schuldunfähig angesehen werden, da diese Erkrankungen die Einsicht in das Unrecht so massiv beeinträchtigen, dass von einer Schuld nicht gesprochen werden kann.
    Ein Beispiel: Der vierundzwanzigjährige Roland M. leidet seit seinem siebzehnten Lebensjahr an einer Schizophrenie. Stimmen hatten ihm eingegeben, dass seine Mutter mit dem Teufel im Bunde sei und er sie töten müsse. Er erdrosselte sie mit einer Klaviersaite. Vor Gericht wird er nach dem Paragraphen  20 des Strafgesetzbuches schuldunfähig gesprochen, da eine solche schwere Krankheit das Unrechtsbewusstsein komplett ausschaltet. Seine Unterbringung im Maßregelvollzug wird angeordnet. Obwohl er einen Mord begangen hat, erhält er keine Gefängnisstrafe mit einer Jahreszahlangabe (wie «vierzehn Jahre») oder «lebenslänglich». Das heißt aber keineswegs, dass er nach ein paar

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