Wer hat Angst vorm bösen Mann?
Reinhold K. zeigt, dass antisoziales Verhalten auch durch eine Hirnschädigung entstehen kann. Die Gründe für solche Läsionen sind vielfältig: Sauerstoffmangel bei der Geburt, eine Hirnhautentzündung im Alter von zwei Jahren, ein Sturz vom Balkon oder ein Tumor im Kopf. Bei manchen Menschen ist die Verletzung des Gehirns augenscheinlich und führt zu einer sichtbaren körperlichen Behinderung, bei anderen ist sie sehr viel subtiler. Bei schweren Hirnschäden zeigen die Betroffenen eine deutliche Intelligenzminderung. Sie können dann zu Straftaten wie Brandstiftung, Diebstahl oder Vergewaltigung neigen, weil sie wegen ihrer mangelnden geistigen Leistungs- und Steuerungsfähigkeit das Unrecht ihrer Tat nicht überblicken können. Bei leichteren Hirnschäden ist die geistige Einschränkung nicht offenkundig; sie kann dennoch schwerwiegende Folgen haben. Solche Menschen können äußerst redegewandt und verständig erscheinen. Bei einem Teil der antisozialen Straftäter besteht ein leichter Hirnschaden, der sich nicht in schweren Intelligenzdefekten oder offensichtlichen Bewegungsstörungen äußert, sondern nur in ganz verhaltenen Symptomen. So haben diese Menschen als Kinder beispielsweise eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie) gezeigt.
Eine teetassengroße Menge Gehirn
Einer der berühmtesten Patienten der Hirnforschung war der amerikanische Bahnarbeiter Phineas Gage. Er hatte im Jahr 1848 einen schweren Unfall, bei dem ihm eine dicke Eisenstange von unten durch das Stirnhirn schoss und oben wieder austrat. Die Stange flog noch fünfundzwanzig Meter weiter, und an ihr klebten Teile des Gehirns. Der herbeigerufene Arzt beobachtete, dass Gage sich erbrach, und durch den Druck wurde noch einmal eine teetassengroße Menge Gehirn durch ein großes Loch in der Schädeldecke herausgedrückt. Gage blieb aber während des Geschehens bei Bewusstsein und konnte mit den Umstehenden reden. Die Ärzte, die ihn in der Folge behandelten, waren erstaunt, dass der Mann diesen Unfall überlebte und nicht – wie sie erwartet hätten – danach geistig behindert war. Er verlor zwar sein linkes Auge und musste viele Monate in einem Krankenhaus behandelt werden, aber danach war er in der Lage, als Kutschenfahrer zu arbeiten. Er machte allerdings eine schwere Veränderung seiner Persönlichkeit durch. [66]
Wie bei meinem Patienten Reinhold K. waren bei Gage große Teile des Stirnhirns (Frontalhirns) zerstört. Merkwürdigerweise kann man damit weiterleben, selbst wenn teetassengroße Stücke fehlen. Es gibt wohl kein Gebiet im Gehirn, bei dem man auf so ausgedehnte Anteile verzichten kann wie im Stirnhirn, ohne dass es sich einem Außenstehenden auf den ersten Blick bemerkbar macht. Menschen, die von einem Frontalhirnsyndrom betroffen sind, fallen nicht immer gleich durch schwere Verhaltensstörungen auf. Sie können einkaufen, bügeln, eine Steuererklärung ausfüllen, Termine in einen Kalender eintragen, Motorrad fahren und Würstchen mit Kartoffelsalat zubereiten. Viele von ihnen können ganz normal in ihrem Beruf arbeiten. Aber Verwandte stellen manchmal eine deutliche Wesensveränderung fest, die das soziale Zusammenleben mit ihnen erheblich beeinträchtigen kann. Man beobachtet unter anderem Eigensinn, läppisches Verhalten, Kritiklosigkeit, mangelndes Lernen aus Fehlern, gesteigerte Sexualität und Missachtung sozialer Regeln und Gesetze.
Das heißt: Antisoziales Verhalten kann durch eine Schädigung des Frontalhirns oder in anderen Bereichen des Gehirns entstehen. Hingegen findet man bei den meisten Menschen mit antisozialer Persönlichkeit eben keine schwere Hirnschädigung. So bat die Mutter Jeffrey Dahmers nach seinem Tod darum, dass sein Gehirn untersucht werde – man konnte aber keine Auffälligkeiten finden.
Ist eine Verletzung des Frontalhirns der Grund für ein antisoziales Verhalten, würde man das Symptombild als «organische Persönlichkeitsstörung» bezeichnen. Wenn ein solcher Mensch straffällig wird, müssten Richter ihn nach ganz anderen Maßstäben beurteilen als jemanden, der zwar antisozial ist, aber keinen offensichtlichen Hirnschaden hat. In manchen Staaten in den USA würde man einen psychopathischen Mörder hinrichten, während man einen geistig Behinderten, der aufgrund eines Arbeitsunfalls einen großen Teil seines Gehirns verloren hat, in eine betreuende Einrichtung geben würde, selbst wenn er ein Tötungsdelikt begangen hat.
Aber kann man tatsächlich eine solche vereinfachende
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