Wer hat Angst vorm bösen Mann?
Verhungern ihrer Sexualobjekte waren die Entführer nicht interessiert. Und obwohl sie ihre Opfer psychisch unter Druck setzten, ihnen drohten, bei einem Fluchtversuch nicht nur die Geisel, sondern auch deren Familienangehörige oder andere Unbeteiligte umzubringen, so ließen sie die Geiseln letztlich am Leben. Dadurch wurde den Entführten die Illusion vorgegaukelt, die Kidnapper hätten ihnen «das Leben geschenkt». Scheinbar hatten diese ein leichtes Spiel, eine solche Drohkulisse aufzubauen – nicht weil ihre Opfer besonders leichtgläubig und manipulierbar waren, sondern weil Menschen angesichts des nahen Todes suggestibel sind und in anderen logischen Schemata denken, als wir uns das aus der sicheren Warte unseres bequemen Sofas vorstellen können.
Eine Schnellanleitung für Gehirnwäsche
Die Täter in Stockholm-Fällen lassen ein bestimmtes, immer wiederkehrendes Muster erkennen. In Gerichtsgutachten wurden ihnen in der Regel eine Persönlichkeitsstörung vom narzisstischen und/oder antisozialen Typ attestiert – die sie aber gut zu verstecken wussten. Manche wurden von ihrem Umfeld als unauffällig, bescheiden, freundlich beschrieben. Oder es wurde ihnen ein einnehmendes Wesen oder gar gewinnender Charme attestiert. Oft konnten sie gut schauspielern und andere Menschen leicht täuschen. Durch ihre manipulative Art brachten manche von ihnen selbst ihre Ehefrauen dazu, dass sie ihnen bei der Entführung halfen. Und sie waren meist fleißige Arbeiter, denn sie mussten nicht nur mit einem regulären Job das Geld verdienen, das ihr teures «Hobby» kostete, sondern auch in ihrer Freizeit einen extremen zeitlichen Aufwand betreiben, um ihr Verbrechen zu verbergen.
Gäbe es eine «Schnellanleitung für Gehirnwäsche», würde sie folgende Regeln enthalten:
Das Opfer in ein Verlies einsperren und komplett von der Außenwelt isolieren.
Das Opfer sexuell missbrauchen, schlagen, verletzen oder foltern.
Die Furcht jeden Tag aufs Neue schüren und das Opfer durch gespielte Hinrichtungen, Würgen oder durch Unter-Wasser-Tauchen bis zur Bewusstlosigkeit bedrohen – bis es das Gefühl hat, dass ihm das Leben «geschenkt» wurde.
Die Bestrafung nach einem unregelmäßigen Muster erfolgen lassen, auch ohne ersichtlichen Grund.
Die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme kontrollieren und auf ein Mindestmaß einschränken.
Ab und zu kleinere, unerwartete Gratifikationen gewähren – wie ein Buch oder ein Stück Kuchen –, um bei den Opfern Dankbarkeit zu erzeugen.
Das Opfer für alles um Erlaubnis fragen lassen.
Körperfunktionen wie Wasserlassen oder Stuhlgang reglementieren.
Das Tageslicht fernhalten und den Tag-Nacht-Rhythmus stören.
Dem Opfer die Kleidung wegnehmen.
Dem Opfer einen neuen Namen geben.
Dem Opfer vorgaukeln, dass es von seinen Eltern, Freunden und Bekannten nicht mehr erwünscht sei.
Ein Szenario vermitteln, dass es eine ominöse, erbarmungslose Organisation gebe, die dem Opfer noch viel schlimmere Torturen zufügen könnte (wie es zu verstümmeln oder zu töten). Am Ende den Eindruck erwecken, dass der Geiselnehmer das Opfer vor dieser angeblichen Machtstruktur schützt.
Vermitteln, dass im Falle einer Flucht nicht nur das Opfer verletzt oder getötet, sondern auch seiner Familie unendliches Leid zugefügt wird.
Dem Opfer nach einer gewissen Zeit Freiheiten wie unbeaufsichtigten Ausgang gewähren, um ihm zu demonstrieren, dass es nicht nur im Verlies, sondern ebenso in der Außenwelt unter Kontrolle steht.
Auch wenn eine solche Anleitung niemals veröffentlicht wurde, hatten sich in den meisten bekanntgewordenen Geiselnahmen die persönlichkeitsgestörten Täter intuitiv an diese Regeln gehalten – weltweit in verblüffender Einigkeit. Natürlich ist es möglich, dass sie sich in Zeitungen und Büchern über ähnliche Fälle informierten. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie diese «Techniken» gefühlsmäßig entwickelten, unter Ausnutzung ihres außerordentlichen Gespürs für die Schwachpunkte ihrer Opfer.
Gibt es das typische Opfer?
Häufig waren es Kinder oder junge Frauen, die das Stockholm-Syndrom zeigten. Der Täter konnte also praktisch unbeschränkte Macht ausüben, wenn das Opfer körperlich unterlegen und lebensunerfahren und deswegen vielleicht leichter manipulierbar war.
Einige Reaktionen der Geiseln können durchaus als vernunftmäßig bezeichnet werden, so zum Beispiel eine Kooperation mit dem Täter gegen die Polizei. Das Opfer könnte ja befürchten, bei einer
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