Wer hat Angst vorm bösen Mann?
fähig und kontrolliert unter anderem die Sprache.
In Überlebenssituationen behaupten sich die simplen Instinkte des tieferliegenden «Reptiliengehirns» gegenüber den intellektuell höherstehenden Anteilen. Wenn man weiß, dass die primitiven und die schlauen Zentren des Gehirns relativ unabhängig voneinander arbeiten und sich sogar gegenseitig behindern können, werden bestimmte paradoxe Verhaltensweisen von Menschen, die in lebensbedrohliche Zustände geraten sind, verständlich. Es gibt zahlreiche Beispiele aus dem täglichen Leben, bei denen sich unser Primitivgehirn gegen die zu intelligentem Denken fähigen Teile des Organs durchsetzt. Wenn wir wegen einer völlig ungefährlichen deutschen Hausspinne panikartig das Haus verlassen, liegt das an einem angeborenen Schutzmechanismus. Manche Menschen würden die «ekligen» Tiere selbst für einen Monatslohn nicht anfassen. Vor Hunderttausenden Jahren mag die Angst vor giftigen Achtbeinern einen Überlebensvorteil dargestellt haben; heute ist sie nur noch ein überflüssiges Relikt aus grauer Vorzeit. Aber durch nüchterne Überlegung ist einer Spinnenphobie nicht einfach beizukommen – hier zeigt sich die Dominanz von entwicklungsgeschichtlich älteren Gehirnstrukturen gegenüber den aufgeklärten, gebildeten Anteilen unseres Denkorgans, die uns beruhigend darauf hinweisen wollen, dass es in Nordeuropa nur harmlose Spinnen gibt. Aber eben vergeblich.
Billy im Glück
Durch einen Zufall hörte ich von der Geschichte von Billy – ein Drama, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Über seinen Therapeuten war ich an seine E-Mail-Adresse gekommen, und nachdem der heute fünfzigjährige ehemalige US -Soldat Billy Joe Capshaw sein Einverständnis erklärt hatte, rief ich ihn in Little Rock, Arkansas, an. Das Gespräch dauerte mehrere Stunden, und ich konnte trotz eines doppelten Whiskys danach nicht schlafen.
« 1980 war ich siebzehn Jahre alt», erzählte mir Billy Capshaw auf Englisch. «Ich war gerade drei Wochen bei der US -Armee in Baumholder stationiert, in Deutschland. Ich teilte mir das Zimmer mit einem gewissen Luke. Der war anfangs wirklich sehr nett, so ein Typ, mit dem man sich gut anfreunden kann. Wir waren beide im Sanitätsdienst. Doch dann machte er plötzlich die Hundertachtzig-Grad-Wende. Er fing an, mich komplett zu kontrollieren und zu drangsalieren. Er war wirklich geisteskrank. Er sperrte mich ständig in unserem Zimmer ein und nahm mir meinen Schlüssel weg. Ich konnte kaum noch zum Dienst gehen. Ich war komplett isoliert.»
«Warum hat keiner gemerkt, dass Sie nicht Ihren Pflichten als Soldat nachkamen?», fragte ich.
«Die Armee war damals in einem desolaten Zustand», antwortete Billy. «Die meisten Soldaten in der Kaserne waren aus Vietnam zurückgekehrt und hatten schwere psychische Probleme. Sie waren permanent betrunken oder unter Drogen. Keiner merkte, dass Luke mich vollkommen unter Kontrolle hatte. Wollte ich das gemeinsame Zimmer verlassen, quälte und folterte er mich. Er schlug mir mit einer Eisenstange, die er vom Bett abgebaut hatte, aufs Schienbein, auf die Knöchel und auf die Finger. Aber nie ins Gesicht. Er war sehr groß und neunzig Kilogramm schwer. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, aber das schien niemand gehört zu haben. Oder es hat keinen interessiert, da in der Kaserne oft Menschen schrien.
Ich weiß nicht, warum ich das habe mit mir machen lassen. Ich hatte eine solche Angst und wollte aus diesem Zimmer fort. Aber wenn ich mich bei den Vorgesetzten beschwerte, unternahmen sie nichts. Einer von ihnen, ein gewisser Paul – ich nenne ihn jetzt so, aber das ist nicht sein richtiger Name –, sagte, ich sei ein Weichei, ich solle mir das nicht gefallen lassen. Auch andere, zum Beispiel ein Sergeant Rodriguez, haben mich einfach nicht ernst genommen.
Mehrfach war ich wegen meiner Verletzungen in der Krankenstation. Luke ging dann mit mir zum Arzt und tat so, als ob er sich um mich kümmern würde, er war ja Sanitäter. Ich erzählte den Ärzten, dass es Luke war, der mich so verletzt hätte, aber die zweifelten an meiner Aussage. Nur einer fertigte einen Bericht an, den aber auch nur die Vorgesetzten bekamen, die mir schon vorher nicht geglaubt hatten. Luke war so manipulativ, dass er alle für sich einnehmen konnte. Er war der perfekte Gentleman. Wenn man mit ihm geredet hat, konnte er ungemein freundlich sein. Niemand hätte gedacht, dass er so grauenhaft war.
In der Armee hat sich niemand
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