Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Titel: Wer hat Angst vorm bösen Mann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Borwin Bandelow
Vom Netzwerk:
Befreiungsaktion aus Versehen erschossen zu werden. Es hat daher ein Interesse an einer unblutigen Beendigung der Geiselnahme. Auch könnte es durchaus ratsam sein, sich mit den Geiselnehmern zu arrangieren, um nicht deren Wut herauszufordern.
    Aber wie lässt sich erklären, dass sich eine positive emotionale Bindung an die Entführer nach der Befreiung in grotesker Weise fortsetzt, dann, wenn die Täter längst hinter Schloss und Riegel sitzen? Liegt es daran, dass Geiseln und Geiselnehmer eine Zeitlang «im selben Boot» gesessen hatten, weil sie unter den gleichen Befürchtungen litten, nämlich durch Polizeikugeln zu sterben?
    In zahlreichen Publikationen spekulierten Psychologen über die nicht verständlichen Verhaltensweisen von Geiseln. Sind es Menschen, fragten sich viele, die auch im normalen Leben auf Scharlatane und Verführer hereinfallen würden? Die Öffentlichkeit ist allzu gern bereit, den Opfern eines Stockholm-Syndroms Unreife, Dummheit, Naivität, ein Helfersyndrom oder sozialromantische Schwärmerei zu unterstellen. In anonymen Internetblogs wurden die vergewaltigten jungen Mädchen manchmal sogar bezichtigt, dass die es bestimmt gar nicht so schlimm fanden, von einem animalischen Bad Boy mit Gewalt genommen worden zu sein.
    Die Tiefenpsychologie hat für die paradoxen positiven Empfindungen gegenüber dem Geiselnehmer eine griffige Erklärung. Sie lautet: «Identifikation mit dem Aggressor». Misshandelt zum Beispiel ein Vater seinen Sohn, entwickelt sich beim Kind Angst. Um diese zu reduzieren, bildet sich nach der psychoanalytischen Theorie im unbewussten Teil des Gehirns ein «Abwehrmechanismus» aus. So identifiziert sich der Sohn paradoxerweise mit dem rabiaten Vater, nimmt dessen dominante Haltung an, bewundert ihn sogar und wird vielleicht später im Leben selbst gewalttätig.
    Nun ist die Identifikation mit dem Aggressor keine ausreichende Begründung, sondern allein die Umschreibung eines Symptoms. Es wird lediglich zirkulär ein unerklärliches Phänomen mit einem anderen rätselhaften Phänomen erklärt. Warum – das müssen wir uns fragen – kommt es zu solchen widersinnigen Verhaltensweisen? Liegt es daran, dass die verschleppten Kinder in einigen Fällen aus Scheidungsfamilien stammten, die sich ungeliebt oder fehl am Platz fühlten? Spielt es eine Rolle, dass die Täter mehrfach den Entführten vorgaukelten, ihre Familien würden sie nicht mehr zurückhaben wollen, sodass sich die Kinder von ihren Eltern verstoßen fühlten und daher den Geiselnehmer als Ersatzvater hinnahmen?
    Sind Personen wie Colleen Stan, die Drogen nahm und bereits vor ihrer Geiselnahme einmal vergewaltigt wurde, sogenannte Opferpersönlichkeiten, die die persönlichkeitsgestörten Täter mit untrüglicher Sicherheit herauspicken? Alle diese Erklärungsversuche sind nicht zufriedenstellend, da sie nicht für alle ähnlich gelagerten Fälle gleichermaßen zutrafen.
     
    Wenn immer wir irrationale Reaktionen bei Menschen entschlüsseln wollen, ist es meist hilfreich, anzunehmen, dass primitive Gehirnfunktionen die Herrschaft über das Denken übernommen und das Vernunftgehirn ausgeschaltet haben. Ein Verhalten, das paradox erscheint, folgt vielleicht in Wirklichkeit der krausen Logik eines eingebauten Notfallsystems unseres Gehirns. Es scheint sich ja bei den Geiseln manchmal eine unerklärliche Liebesbeziehung zu entwickeln, wie bei Colleen Stan, die ihrem Folterer neunundzwanzig Liebesbriefe schrieb, wie bei Nicola Fleuchaus, die sich beim Küssen mit einem Geiselgangster fotografieren ließ, oder wie bei Jaycee Lee Dugard, die eine merkwürdig romantische Beziehung zu ihrem Peiniger entwickelte, wie wir noch sehen werden.
    Vielleicht müssen wir eine Erklärung in den Tiefen des Gehirns suchen – in den animalischen Anteilen des Denkorgans.
    Im Gehirn liegen verschiedene Segmente wie Zwiebelschalen übereinander. Tief im Zentrum – und so am besten gegen äußere Gewalteinwirkungen geschützt – befinden sich Abschnitte, die einerseits sehr einfach gestrickt, andererseits überlebenswichtig sind. Diese sorgen dafür, dass wir regelmäßig atmen, und sie überwachen auch alle anderen automatischen Funktionen des Körpers. Hierzu gehören das Belohnungssystem sowie ein archaisches Angstsystem. Die entsprechenden Gehirnteile sind bei Ratten und Hunden nicht viel anders aufgebaut als bei Menschen. Der außenliegende Neocortex (die «neue Hirnrinde») ist dagegen zu intelligentem, planerischem Denken

Weitere Kostenlose Bücher