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Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Titel: Wer hat Angst vorm bösen Mann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Borwin Bandelow
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ehrenhaft entlassen. Später bekam ich einen Brief von der Armee, in dem man sich entschuldigte, dass sich niemand um mich gekümmert hätte.
    Mein ganzes Leben ist dadurch verpfuscht. Ich bin psychisch völlig fertig. Ich habe in meinem ganzen Leben gerade insgesamt 56 000  Dollar verdient. Ich hatte nie einen Job, denn ich war nie in der Lage zu arbeiten. Ich wollte mich oft umbringen.»
    «Warum haben Sie versucht, Luke zu besuchen, als Sie in die USA zurückkehrten?» Dies hatte ich in Erfahrung bringen können, und ich konnte mir nicht erklären, warum er ein Verlangen verspürt hatte, Luke erneut zu treffen – nach allem, was dieser ihm angetan hatte.
    «Ich weiß auch nicht», entgegnete Billy. «Ich wollte sehen, ob er noch in Wisconsin wohnt. Erst habe ich seinen Vater angerufen, dann ihn. Luke war aber abweisend und wollte nicht mit mir sprechen. Ich weiß nicht, warum ich ihn wiedersehen wollte. Ich glaube, dass ich das habe, was man Stockholm-Syndrom nennt, so hat es jedenfalls mein Therapeut Dr. Watermann genannt, bei dem ich sechsundzwanzig Jahre wegen meiner posttraumatischen Belastungsstörung in Therapie war. Ich habe Albträume und Flashbacks. Ich kann nicht mehr Schach spielen, denn wenn ich ein Schachbrett sehe, muss ich an Luke denken – wir haben es ja oft gespielt. Dr. Watermann hat mich gerettet, er ist ein guter Mann. Er hat mich umsonst behandelt.
    Als ich dann hörte, was Luke noch anderen Menschen angetan hat, habe ich mich schuldig gefühlt, dass ich ihn damals nicht umgebracht hatte. Ich hatte tatsächlich geplant, ihn zu töten, so verzweifelt war ich. Er war oft bis zur Bewusstlosigkeit betrunken – ich wollte ihn mit einem Metallstück erschlagen und anschließend behaupten, er sei gefallen.»
     
    Billy hatte sagenhaftes Glück gehabt. Wie die Geschichte weitergeht, können Sie auf Seite  48 ff. lesen. Die hier genannte Person hieß nicht Luke, sondern Jeffrey. Billy hatte Jeffrey Dahmer, so der Name seines Zimmernachbarn, überlebt.

Der Survival-Modus
    Wollen wir den paradoxen Verhaltensweisen der Opfer von Psychopathen näher auf die Spur kommen, ist es sinnvoll, sich weiter mit der Gehirnchemie auseinanderzusetzen, die den Menschen in Situationen höchster Not oft einen Streich spielt.
    In der Entwicklung eines jeden «normalen» Kindes gibt die Mutter Nahrung, Liebe und Zärtlichkeit. Aber oft muss sie dem Kind auch Wünsche verwehren. Sie muss seine Freiheit begrenzen oder es sogar bestrafen. In den ersten Lebensmonaten des Säuglings übt die Mutter praktisch die totale Kontrolle aus. Dem Baby bleibt nur eine Möglichkeit zur Einflussnahme: lautes Schreien. Und trotz dieser maximalen Autonomieeinschränkung bleibt die Mutter lange Jahre die wichtigste Bezugsperson. Selbst die allerschlimmste Mutter schafft es, von ihrem gequälten Kind abgöttisch geliebt zu werden. Es liegt nahe, anzunehmen, dass die starke Anhänglichkeit – unabhängig von der damit verbundenen Freiheitsberaubung – durch ein automatisch ablaufendes Programm der Natur kontrolliert wird. Die mütterliche Bindung wird – genau wie eine Liebesbeziehung – im Wesentlichen nicht durch Überlegungen unseres Vernunftgehirns, sondern durch verschiedene Gehirnhormone gesteuert.
    Die Mutterliebe und auch die Unterwerfung des Kindes unter die bestrafende Mutter sind zwei Phänomene, die das Überleben eines Kindes sichern – bei Tieren wie beim Menschen. Ein Tierkind, das nicht durch ängstliches Fiepen auf sich aufmerksam macht, wenn es die Mutter aus dem Blick verloren hat, würde ebenso rasch sterben wie eines, dessen Übermut und Neugiertrieb nicht immer wieder durch die vorsichtige Mutter eingeschränkt wird.
    Ist ein Mensch in Lebensgefahr, werden die Neurotransmitter im Gehirn, die schon erwähnten Botenstoffe, die für die Übertragung einer elektrischen Erregung von einer Nervenzelle zur anderen sorgen, neu gemischt. Wird ein elfjähriges Mädchen von einem fremden Mann eingesperrt, entwickelt es zunächst einmal extreme Angst vor dem Tod. Dabei steht die Furcht, zu verhungern oder getötet zu werden, im Vordergrund. So zynisch es klingt: Die Furcht, vergewaltigt oder gefoltert zu werden, ist nur die zweitschlimmste Bedrohung – solange das Leben nicht in Gefahr ist. Wenn ein Täter das Kind für seine niedrigen sexuellen Bedürfnisse missbraucht, ist das in gewisser Weise sogar eine Überlebensgarantie, denn nur lebendig kann das Kind der wiederholten Triebbefriedigung dienen. Hinzu

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